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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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öffentlichen Meinung Europas das Vorurtheil erhalten, die große Republik
sei gleichfalls aus dem Begriff hervorgegangen, sie sei gewissermaßen auf einer
wdrüa rasa aufgerichtet worden. Wie wenig diese Vorstellung den wirklichen
Zuständen entsprach, war den Kundigen freilich bekannt; allein die Masse ist
darüber noch immer im Unklaren, und so lange die massenhafte Auswanderung
fortdauert, so lange man sich einbildet, für jeden Wunsch, für jedes Ideal in
Amerika die entsprechende Wirklichkeit zu finden, wird es schwer sein, den, der
nicht sehen will, zu enttäuschen. Daß nicht alles Gold ist, was glänzt, dar¬
über kann freilich ^bei den ausführlichen Berichten der Auswanderer kein Zwei¬
fel mehr obwalten. Ja eS scheint sogar die Reaction von den Schriftstellern
jetzt etwas ins Uebermaß getrieben zu werden. Wir haben in einem frühern
Artikel darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt die pessimistische Auf-
fassung ist, welche unsere Publicisten und Belletristen über England verbreiten.
Noch viel ärger steht es mit Amerika. Sollte man es z. B. nach den Be¬
richten des Ausland beurtheilen, eines im Ganzen sehr wohlunterrichteten und
gutgesinnten Blattes, so müßte man Amerika als ein zweites Sodom und
Gomorrha betrachten, welches in jedem Augenblick den Feuerregen der göttlichen
Rache erwartet. Der Grund dieser einseitigen und übertriebenen Angriffe'
liegt lediglich in den falschen Voraussetzungen, mit denen man an das Stu¬
dium der amerikanischen Zustände geht. Mau hat sich ein bestimmtes Bild
von dem gemacht, was man in Amerika finden will, die Wirklichkeit entspricht
diesem Bilde in keiner Weise, und so ist man nur zu geneigt, in diesem Wi¬
derspruch ein Unrecht Amerikas gegen Europa zu suchen.

So gibt es z. B., wenn man von der Negersklaverei absieht, kein Ver-,
hältniß, welches in Deutschland mit so großer Bitterkeit besprochen wäre, als
die Reaction der sogenannten Knvwnothings gegen die Einwanderer. Eine
erclusive Republik, ein intoleranter Freistaat, es ist das ein Widerspruch, in
den man sich gar nicht finden kann. Man wird ihn nur dann begreifen,
wenn man sich nicht auf die Beobachtung der gegenwärtigen Zustände be¬
schränkt, sondern zu ergründen sucht, wie sie geworden sind.

Die amerikanischen Freistaaten sind nicht auf einer tabula rasa aufge¬
richtet, sie sind auf einer sehr bestimmten sittlichen Grundlage organisch auf¬
gewachsen. Die Revolution war nur die reife Frucht, die vom Baume ab¬
fiel. Die Gründer der Republik waren keine idealistischen Neuerer, sondern
zähe conservative Staatsmänner, in der alten Schule gebildet, von praktischer
Lebenserfahrung ausgehend und jedem Ungestüm abhold. Bei der demokratischen
Verfassung konnte es freilich nicht fehlen, daß im Lauf der Entwicklung die
alte conservative Richtung theilweise verlassen wurde, aber sie besteht noch fort,
ja sie ist noch immer die eigentliche Grundlage des amerikanischen Staatslebens.
Die vielgerühmten Menschenrechte gingen nicht aus der Philosophie hervor,


öffentlichen Meinung Europas das Vorurtheil erhalten, die große Republik
sei gleichfalls aus dem Begriff hervorgegangen, sie sei gewissermaßen auf einer
wdrüa rasa aufgerichtet worden. Wie wenig diese Vorstellung den wirklichen
Zuständen entsprach, war den Kundigen freilich bekannt; allein die Masse ist
darüber noch immer im Unklaren, und so lange die massenhafte Auswanderung
fortdauert, so lange man sich einbildet, für jeden Wunsch, für jedes Ideal in
Amerika die entsprechende Wirklichkeit zu finden, wird es schwer sein, den, der
nicht sehen will, zu enttäuschen. Daß nicht alles Gold ist, was glänzt, dar¬
über kann freilich ^bei den ausführlichen Berichten der Auswanderer kein Zwei¬
fel mehr obwalten. Ja eS scheint sogar die Reaction von den Schriftstellern
jetzt etwas ins Uebermaß getrieben zu werden. Wir haben in einem frühern
Artikel darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt die pessimistische Auf-
fassung ist, welche unsere Publicisten und Belletristen über England verbreiten.
Noch viel ärger steht es mit Amerika. Sollte man es z. B. nach den Be¬
richten des Ausland beurtheilen, eines im Ganzen sehr wohlunterrichteten und
gutgesinnten Blattes, so müßte man Amerika als ein zweites Sodom und
Gomorrha betrachten, welches in jedem Augenblick den Feuerregen der göttlichen
Rache erwartet. Der Grund dieser einseitigen und übertriebenen Angriffe'
liegt lediglich in den falschen Voraussetzungen, mit denen man an das Stu¬
dium der amerikanischen Zustände geht. Mau hat sich ein bestimmtes Bild
von dem gemacht, was man in Amerika finden will, die Wirklichkeit entspricht
diesem Bilde in keiner Weise, und so ist man nur zu geneigt, in diesem Wi¬
derspruch ein Unrecht Amerikas gegen Europa zu suchen.

So gibt es z. B., wenn man von der Negersklaverei absieht, kein Ver-,
hältniß, welches in Deutschland mit so großer Bitterkeit besprochen wäre, als
die Reaction der sogenannten Knvwnothings gegen die Einwanderer. Eine
erclusive Republik, ein intoleranter Freistaat, es ist das ein Widerspruch, in
den man sich gar nicht finden kann. Man wird ihn nur dann begreifen,
wenn man sich nicht auf die Beobachtung der gegenwärtigen Zustände be¬
schränkt, sondern zu ergründen sucht, wie sie geworden sind.

Die amerikanischen Freistaaten sind nicht auf einer tabula rasa aufge¬
richtet, sie sind auf einer sehr bestimmten sittlichen Grundlage organisch auf¬
gewachsen. Die Revolution war nur die reife Frucht, die vom Baume ab¬
fiel. Die Gründer der Republik waren keine idealistischen Neuerer, sondern
zähe conservative Staatsmänner, in der alten Schule gebildet, von praktischer
Lebenserfahrung ausgehend und jedem Ungestüm abhold. Bei der demokratischen
Verfassung konnte es freilich nicht fehlen, daß im Lauf der Entwicklung die
alte conservative Richtung theilweise verlassen wurde, aber sie besteht noch fort,
ja sie ist noch immer die eigentliche Grundlage des amerikanischen Staatslebens.
Die vielgerühmten Menschenrechte gingen nicht aus der Philosophie hervor,


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[0356] öffentlichen Meinung Europas das Vorurtheil erhalten, die große Republik sei gleichfalls aus dem Begriff hervorgegangen, sie sei gewissermaßen auf einer wdrüa rasa aufgerichtet worden. Wie wenig diese Vorstellung den wirklichen Zuständen entsprach, war den Kundigen freilich bekannt; allein die Masse ist darüber noch immer im Unklaren, und so lange die massenhafte Auswanderung fortdauert, so lange man sich einbildet, für jeden Wunsch, für jedes Ideal in Amerika die entsprechende Wirklichkeit zu finden, wird es schwer sein, den, der nicht sehen will, zu enttäuschen. Daß nicht alles Gold ist, was glänzt, dar¬ über kann freilich ^bei den ausführlichen Berichten der Auswanderer kein Zwei¬ fel mehr obwalten. Ja eS scheint sogar die Reaction von den Schriftstellern jetzt etwas ins Uebermaß getrieben zu werden. Wir haben in einem frühern Artikel darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt die pessimistische Auf- fassung ist, welche unsere Publicisten und Belletristen über England verbreiten. Noch viel ärger steht es mit Amerika. Sollte man es z. B. nach den Be¬ richten des Ausland beurtheilen, eines im Ganzen sehr wohlunterrichteten und gutgesinnten Blattes, so müßte man Amerika als ein zweites Sodom und Gomorrha betrachten, welches in jedem Augenblick den Feuerregen der göttlichen Rache erwartet. Der Grund dieser einseitigen und übertriebenen Angriffe' liegt lediglich in den falschen Voraussetzungen, mit denen man an das Stu¬ dium der amerikanischen Zustände geht. Mau hat sich ein bestimmtes Bild von dem gemacht, was man in Amerika finden will, die Wirklichkeit entspricht diesem Bilde in keiner Weise, und so ist man nur zu geneigt, in diesem Wi¬ derspruch ein Unrecht Amerikas gegen Europa zu suchen. So gibt es z. B., wenn man von der Negersklaverei absieht, kein Ver-, hältniß, welches in Deutschland mit so großer Bitterkeit besprochen wäre, als die Reaction der sogenannten Knvwnothings gegen die Einwanderer. Eine erclusive Republik, ein intoleranter Freistaat, es ist das ein Widerspruch, in den man sich gar nicht finden kann. Man wird ihn nur dann begreifen, wenn man sich nicht auf die Beobachtung der gegenwärtigen Zustände be¬ schränkt, sondern zu ergründen sucht, wie sie geworden sind. Die amerikanischen Freistaaten sind nicht auf einer tabula rasa aufge¬ richtet, sie sind auf einer sehr bestimmten sittlichen Grundlage organisch auf¬ gewachsen. Die Revolution war nur die reife Frucht, die vom Baume ab¬ fiel. Die Gründer der Republik waren keine idealistischen Neuerer, sondern zähe conservative Staatsmänner, in der alten Schule gebildet, von praktischer Lebenserfahrung ausgehend und jedem Ungestüm abhold. Bei der demokratischen Verfassung konnte es freilich nicht fehlen, daß im Lauf der Entwicklung die alte conservative Richtung theilweise verlassen wurde, aber sie besteht noch fort, ja sie ist noch immer die eigentliche Grundlage des amerikanischen Staatslebens. Die vielgerühmten Menschenrechte gingen nicht aus der Philosophie hervor,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/356>, abgerufen am 26.07.2024.