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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Schichten aufgeregt, gehoben und zu gemeinsamem Wollen fortgerissen wurde.
Jeder Einzelne nahm Theil an dem Streit; in der ärmsten Hütte wurden die
Fragen nach der Gnade Gottes, der Vergebung der Sünden mit leidenschaft¬
licher Wärme durchgesprochen. Den Hirtenknaben trieb der Drang nach Wissen
von seiner Herde, der reisende Händler focht am Herdfeuer der Nachtherberge
für und gegen den Ablaß; in der ganzen Nation zuckte es wie ein elektrisches
Feuer und Luthers Worte waren Donnerschläge, welche die Fortschritte des
großen Wetters bezeichnen. Seine ungeheure Popularität, größer vielleicht,
als sie jemals irgend ein Deutscher besessen hat, wird nur verständlich, wenn
man beherzigt, daß dieselben Zweifel und innern Kämpfe, welche er selbst
durchgemacht hat, zu derselben Zeit die Herzen von Hunderttausenden bewegten
und zerrissen.

Wenn aber die ersten Jahrzehnte der jungen Reformation merkwürdige
Einblicke in die Seele des deutschen Volkes gewähren, so sind die zwanzig
Jahre vor Ausbruch der religiösen Bewegung nicht weniger interessant. Die
schnelle Popularität der classischen Sprachen, der Eifer sie zu lernen, die
mächtige Veränderung, welche diese neue Wissenschaft auf die religiösen An¬
schauungen ausübte, das alles jetzt noch zu erkennen, ist nicht ganz leicht.
Solche Zustände und Stimmungen sind es vorzugsweise, welche durch Selbst¬
bekenntnisse der Zeitgenossen verständlich werden. Bereits sind einige solche
Aufzeichnungen in d. Bl. früher mitgetheilt worden; die, welche hier folgt,
darf ein besonderes Interesse beanspruchen, denn der Mann, welcher sie nieder¬
schrieb, ist einer der untadligsten aus dem Kreise der Reformatoren. Friedrich
Mecum, lateinisch Myconius, war der Sohn ehrbarer Bürgersleute aus
Lichtenfels in Oberfranken, geboren 1491. Mit dreizehn Jahren kam er auf
die lateinische Schule der damals aufblühenden Bergstadt Annaberg. -- Dort
erlebte er, was weiter unten mit seinen Worten erzählt wird, und ging im
Jahr 1310 als 19jähriger Jüngling in das Kloster. Als Prediger im FranciS-
canerorden wurde er einer der ersten, eifrigsten und treusten Anhänger der
wittenberger Professoren. Er trat aus dem Orden, wurde Prediger der neuen
Kirche in Thüringen, endlich Pfarrherr und Superintendent zu Gotha, wo er
die Reformation durchsetzte und starb im Jahr 1546. Zu Luth?r stand er in einem
eigenthümlichen Verhältniß. Er war nicht nur sein bescheidener und inniger
Freund in vielen Beziehungen des Privatlebens, sondern in seinem Verhältniß
zu Luther war bis zu seinem Tode eine Poesie, welche ihm das ganze Leben
verklärte. In der verhängnißvollsten Zeit seines Lebens, sieben Jahre bevor
Luther die Reformation begann, war ihm das Bild des großen Mannes im
Traum erschienen und hatte die Zweifel seines aufgeregten Herzens beruhigt-
und in der Verklärung des Traumes sah der treue, fromme Deutsche seinen
großen Freund fortan zu jeder Stunde. Aber noch ein anderer Umstand macht die


Schichten aufgeregt, gehoben und zu gemeinsamem Wollen fortgerissen wurde.
Jeder Einzelne nahm Theil an dem Streit; in der ärmsten Hütte wurden die
Fragen nach der Gnade Gottes, der Vergebung der Sünden mit leidenschaft¬
licher Wärme durchgesprochen. Den Hirtenknaben trieb der Drang nach Wissen
von seiner Herde, der reisende Händler focht am Herdfeuer der Nachtherberge
für und gegen den Ablaß; in der ganzen Nation zuckte es wie ein elektrisches
Feuer und Luthers Worte waren Donnerschläge, welche die Fortschritte des
großen Wetters bezeichnen. Seine ungeheure Popularität, größer vielleicht,
als sie jemals irgend ein Deutscher besessen hat, wird nur verständlich, wenn
man beherzigt, daß dieselben Zweifel und innern Kämpfe, welche er selbst
durchgemacht hat, zu derselben Zeit die Herzen von Hunderttausenden bewegten
und zerrissen.

Wenn aber die ersten Jahrzehnte der jungen Reformation merkwürdige
Einblicke in die Seele des deutschen Volkes gewähren, so sind die zwanzig
Jahre vor Ausbruch der religiösen Bewegung nicht weniger interessant. Die
schnelle Popularität der classischen Sprachen, der Eifer sie zu lernen, die
mächtige Veränderung, welche diese neue Wissenschaft auf die religiösen An¬
schauungen ausübte, das alles jetzt noch zu erkennen, ist nicht ganz leicht.
Solche Zustände und Stimmungen sind es vorzugsweise, welche durch Selbst¬
bekenntnisse der Zeitgenossen verständlich werden. Bereits sind einige solche
Aufzeichnungen in d. Bl. früher mitgetheilt worden; die, welche hier folgt,
darf ein besonderes Interesse beanspruchen, denn der Mann, welcher sie nieder¬
schrieb, ist einer der untadligsten aus dem Kreise der Reformatoren. Friedrich
Mecum, lateinisch Myconius, war der Sohn ehrbarer Bürgersleute aus
Lichtenfels in Oberfranken, geboren 1491. Mit dreizehn Jahren kam er auf
die lateinische Schule der damals aufblühenden Bergstadt Annaberg. — Dort
erlebte er, was weiter unten mit seinen Worten erzählt wird, und ging im
Jahr 1310 als 19jähriger Jüngling in das Kloster. Als Prediger im FranciS-
canerorden wurde er einer der ersten, eifrigsten und treusten Anhänger der
wittenberger Professoren. Er trat aus dem Orden, wurde Prediger der neuen
Kirche in Thüringen, endlich Pfarrherr und Superintendent zu Gotha, wo er
die Reformation durchsetzte und starb im Jahr 1546. Zu Luth?r stand er in einem
eigenthümlichen Verhältniß. Er war nicht nur sein bescheidener und inniger
Freund in vielen Beziehungen des Privatlebens, sondern in seinem Verhältniß
zu Luther war bis zu seinem Tode eine Poesie, welche ihm das ganze Leben
verklärte. In der verhängnißvollsten Zeit seines Lebens, sieben Jahre bevor
Luther die Reformation begann, war ihm das Bild des großen Mannes im
Traum erschienen und hatte die Zweifel seines aufgeregten Herzens beruhigt-
und in der Verklärung des Traumes sah der treue, fromme Deutsche seinen
großen Freund fortan zu jeder Stunde. Aber noch ein anderer Umstand macht die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/302>, abgerufen am 22.06.2024.