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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Drei Dramen von Elise Schmidt. Berlin, Allgemeine deutsche Verlags-
anstcllt. -- Die Dichterin trat bekanntlich zuerst in den röthscherscben Jahrbüchern
mit dem Judas Ischarioth auf, einem dramatischen Gedicht, welches wir für eine
der tollsten Verirrungen der jungdeutschen Poesie halten, das aber, wie wir
aus dem Umschlag ersehen, von berühmten Kritikern anders beurtheilt wird:
"Dieses großartige Gedicht, von dem Gottschall sagt, daß es an die Säulen
des Himmels rüttle, das Rosenkranz neben die Perlen des britischen Dichter-
konigs stellte, von dem Ludwig Tieck erklärte, daß es zu dem Bedeutsamsten,
Charaktervollsten gehöre, das ihm auf seinem langen Lebenswege begegnet
sei u. s. w." Die vorliegenden drei Dramen: Der Genius und die Gesellschaft,
Macchiavelli und Peter der Große sind schon insofern ein Fortschritt, als sie sich
mit realen, bestimmten Gegenständen beschäftigen, die individuell darstellbar sind,
also in das Gebiet der Kunst gehören. -- Bereits bei Besprechung des ersten
Stücks haben wir hervorgehoben, daß in der Weise ihres Schaffens die begabte
Dichterin eine auffallende Aehnlichkeit mit Gutzkow verräth. Doch zeichnet sie
sich in einer Beziehung vortheilhaft vor ihm aus, die Stücke sind nicht eine
Mosaikarbeit aus einzelnen Effecten, sondern sie sind nach einem bestimmten
Plan gemacht, der aus der Sache hervorgeht. Dagegen hat Gutzkow wieder
den großen Vorzug einer umfangreicheren Weltkenntniß .und einer ziemlich aus¬
gedehnten Belesenheit. Seine Einfälle, wenn sie sich auf die negative Seite der
menschlichen Natur beziehen, wie sie uns in der wirklichen Erscheinung ent¬
gegentritt, sind zuweilen sehr treffend und witzig; bei Elise Schmidt dagegen
sehen die realistischen Schilderungen eines Lebens, welches sie nicht kennt und
die Anspielung auf Bildungsfragen, mit denen sie sich nur sporadisch beschäftigt
hat, ziemlich ungeschickt aus. Die Sprache ist um so manierirter, je mehr die
Dichterin nach poetischen Bildern zu haschen sucht, je mehr sie über der lyri¬
schen Erstase vergißt, dramatisch zu charakterisier,. So gibt sie z. B. einmal
die Anweisung, ein junges Mädchen solle mit holden Fingern beschwörende
Zeichen über einen Becher machen, was wol von den Schauspielern schwerlich
durchgeführt werden kann. -- Die drei Dramen bewegen sich auf dem histori¬
schen Gebiet. Elise Schmidt hat die Geschichte nach ihren dramatischen Be¬
dürfnissen zure.ehe gemacht, und da sich über das Recht des Dichters, mit den
Thatsachen nach Belieben umzuspringen, hin und herstreiten läßt, so wollen
wir diese Frage hier ganz bei Seite lassen und uns nur die Anforderung vor¬
behalten, daß die Veränderungen aus der innern Natur des Dramas hervor¬
gehen müssen. -- Gleich im ersten Drama, welches die Geschichte des Lord
Byron enthält, finden wir einen starken Verstoß gegen diese Anforderungen.
Was es im Einzelnen mit den Scheidungsgründen Byrons für eine Be-
wandtniß hatte, ist nicht vollständig ausgemacht; für diejenigen aber, welche
geneigt sein sollten, in dieser Frage sich entschieden aus die Seite des Dichters


Drei Dramen von Elise Schmidt. Berlin, Allgemeine deutsche Verlags-
anstcllt. — Die Dichterin trat bekanntlich zuerst in den röthscherscben Jahrbüchern
mit dem Judas Ischarioth auf, einem dramatischen Gedicht, welches wir für eine
der tollsten Verirrungen der jungdeutschen Poesie halten, das aber, wie wir
aus dem Umschlag ersehen, von berühmten Kritikern anders beurtheilt wird:
„Dieses großartige Gedicht, von dem Gottschall sagt, daß es an die Säulen
des Himmels rüttle, das Rosenkranz neben die Perlen des britischen Dichter-
konigs stellte, von dem Ludwig Tieck erklärte, daß es zu dem Bedeutsamsten,
Charaktervollsten gehöre, das ihm auf seinem langen Lebenswege begegnet
sei u. s. w." Die vorliegenden drei Dramen: Der Genius und die Gesellschaft,
Macchiavelli und Peter der Große sind schon insofern ein Fortschritt, als sie sich
mit realen, bestimmten Gegenständen beschäftigen, die individuell darstellbar sind,
also in das Gebiet der Kunst gehören. — Bereits bei Besprechung des ersten
Stücks haben wir hervorgehoben, daß in der Weise ihres Schaffens die begabte
Dichterin eine auffallende Aehnlichkeit mit Gutzkow verräth. Doch zeichnet sie
sich in einer Beziehung vortheilhaft vor ihm aus, die Stücke sind nicht eine
Mosaikarbeit aus einzelnen Effecten, sondern sie sind nach einem bestimmten
Plan gemacht, der aus der Sache hervorgeht. Dagegen hat Gutzkow wieder
den großen Vorzug einer umfangreicheren Weltkenntniß .und einer ziemlich aus¬
gedehnten Belesenheit. Seine Einfälle, wenn sie sich auf die negative Seite der
menschlichen Natur beziehen, wie sie uns in der wirklichen Erscheinung ent¬
gegentritt, sind zuweilen sehr treffend und witzig; bei Elise Schmidt dagegen
sehen die realistischen Schilderungen eines Lebens, welches sie nicht kennt und
die Anspielung auf Bildungsfragen, mit denen sie sich nur sporadisch beschäftigt
hat, ziemlich ungeschickt aus. Die Sprache ist um so manierirter, je mehr die
Dichterin nach poetischen Bildern zu haschen sucht, je mehr sie über der lyri¬
schen Erstase vergißt, dramatisch zu charakterisier,. So gibt sie z. B. einmal
die Anweisung, ein junges Mädchen solle mit holden Fingern beschwörende
Zeichen über einen Becher machen, was wol von den Schauspielern schwerlich
durchgeführt werden kann. — Die drei Dramen bewegen sich auf dem histori¬
schen Gebiet. Elise Schmidt hat die Geschichte nach ihren dramatischen Be¬
dürfnissen zure.ehe gemacht, und da sich über das Recht des Dichters, mit den
Thatsachen nach Belieben umzuspringen, hin und herstreiten läßt, so wollen
wir diese Frage hier ganz bei Seite lassen und uns nur die Anforderung vor¬
behalten, daß die Veränderungen aus der innern Natur des Dramas hervor¬
gehen müssen. — Gleich im ersten Drama, welches die Geschichte des Lord
Byron enthält, finden wir einen starken Verstoß gegen diese Anforderungen.
Was es im Einzelnen mit den Scheidungsgründen Byrons für eine Be-
wandtniß hatte, ist nicht vollständig ausgemacht; für diejenigen aber, welche
geneigt sein sollten, in dieser Frage sich entschieden aus die Seite des Dichters


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[0276] Drei Dramen von Elise Schmidt. Berlin, Allgemeine deutsche Verlags- anstcllt. — Die Dichterin trat bekanntlich zuerst in den röthscherscben Jahrbüchern mit dem Judas Ischarioth auf, einem dramatischen Gedicht, welches wir für eine der tollsten Verirrungen der jungdeutschen Poesie halten, das aber, wie wir aus dem Umschlag ersehen, von berühmten Kritikern anders beurtheilt wird: „Dieses großartige Gedicht, von dem Gottschall sagt, daß es an die Säulen des Himmels rüttle, das Rosenkranz neben die Perlen des britischen Dichter- konigs stellte, von dem Ludwig Tieck erklärte, daß es zu dem Bedeutsamsten, Charaktervollsten gehöre, das ihm auf seinem langen Lebenswege begegnet sei u. s. w." Die vorliegenden drei Dramen: Der Genius und die Gesellschaft, Macchiavelli und Peter der Große sind schon insofern ein Fortschritt, als sie sich mit realen, bestimmten Gegenständen beschäftigen, die individuell darstellbar sind, also in das Gebiet der Kunst gehören. — Bereits bei Besprechung des ersten Stücks haben wir hervorgehoben, daß in der Weise ihres Schaffens die begabte Dichterin eine auffallende Aehnlichkeit mit Gutzkow verräth. Doch zeichnet sie sich in einer Beziehung vortheilhaft vor ihm aus, die Stücke sind nicht eine Mosaikarbeit aus einzelnen Effecten, sondern sie sind nach einem bestimmten Plan gemacht, der aus der Sache hervorgeht. Dagegen hat Gutzkow wieder den großen Vorzug einer umfangreicheren Weltkenntniß .und einer ziemlich aus¬ gedehnten Belesenheit. Seine Einfälle, wenn sie sich auf die negative Seite der menschlichen Natur beziehen, wie sie uns in der wirklichen Erscheinung ent¬ gegentritt, sind zuweilen sehr treffend und witzig; bei Elise Schmidt dagegen sehen die realistischen Schilderungen eines Lebens, welches sie nicht kennt und die Anspielung auf Bildungsfragen, mit denen sie sich nur sporadisch beschäftigt hat, ziemlich ungeschickt aus. Die Sprache ist um so manierirter, je mehr die Dichterin nach poetischen Bildern zu haschen sucht, je mehr sie über der lyri¬ schen Erstase vergißt, dramatisch zu charakterisier,. So gibt sie z. B. einmal die Anweisung, ein junges Mädchen solle mit holden Fingern beschwörende Zeichen über einen Becher machen, was wol von den Schauspielern schwerlich durchgeführt werden kann. — Die drei Dramen bewegen sich auf dem histori¬ schen Gebiet. Elise Schmidt hat die Geschichte nach ihren dramatischen Be¬ dürfnissen zure.ehe gemacht, und da sich über das Recht des Dichters, mit den Thatsachen nach Belieben umzuspringen, hin und herstreiten läßt, so wollen wir diese Frage hier ganz bei Seite lassen und uns nur die Anforderung vor¬ behalten, daß die Veränderungen aus der innern Natur des Dramas hervor¬ gehen müssen. — Gleich im ersten Drama, welches die Geschichte des Lord Byron enthält, finden wir einen starken Verstoß gegen diese Anforderungen. Was es im Einzelnen mit den Scheidungsgründen Byrons für eine Be- wandtniß hatte, ist nicht vollständig ausgemacht; für diejenigen aber, welche geneigt sein sollten, in dieser Frage sich entschieden aus die Seite des Dichters

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/276>, abgerufen am 21.06.2024.