Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

denn das Endurtheil der Nachwelt kann der Dichter nicht abwarten. Bezahlt
wird, was gefällt, ^und die Gesetzgebung hat wenigstens in Bezug aus das
Theater jetzt dafür gesorgt, daß wirklich bezahlt wird. Der Grund des Ge¬
fallens ist oft ein zufälliger, mit der Zeit aber corrigirt sich daS. Aber immer
noch wärmt man den Mythus von dem verhungernden Schiller auf, während
man doch aus seinen Briefen nachlesen kann, daß er nach blos sechs Jahren
erfolgreicher Wirksamkeit und einem sehr bequemen Leben schon ernsthaft anfing
für die Familie zurückzulegen. Wir wollen hier von dem Vergleich der In¬
dustrie ganz absehen, weil hier nicht blos der Verstand, sondern auch das
Capital arbeitet. Man vergleiche aber einmal die Lage der höheren Beamten
(die höchsten Spitzen ausgenommen), die doch wahrhaftig auch einer geistigen
Ausbildung bedürfen und geistig arbeiten, mit der Lage unsrer Schriftsteller,
und man wird finden, daß die letztere unverhältnißmäßig besser ist. -- Wenn
man die höchsten Spitzen vergleichen will, so nehme man z. B. das erste Jahr
der konstitutionellen Zeitung in Berlin, welches dem Redacteur in der Theorie
3000, in der Wirklichkeit -18,000 Thlr. einbrachte. -- Freilich sind unsre Schrift¬
steller noch nicht in der Lage der beliebten französischen, die bei einer durch¬
schnittlichen Jahreseinnahme von 100,000 Franken fortwährend darüber klagen,
daß sie Hungers sterben müssen. Indeß, wenn wir so weit gekommen sind,
wird es sehr die Frage sein, ob es dann besser mit uns steht. -- Man ver¬
zeihe diese Digression, die freilich nicht unmittelbar zum Gegenstande gehört.
Es war nothwendig, einmal diese Frage zu berühren.

Die neue Welt. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, mit
einem Vorspiel: Goethes Ankunft in Walhalla. Von Arnold
Rüge. Leipzig, Brockhaus. -- Wir waren nicht wenig verwundert, unsern
alten Freund in dem neuen Gewände wieder anzutreffen, Saul unter den
Propheten! -- Rüge sagt in der Vorrede, Varnhagen habe gegen d^'e Tendenz
allerlei einzuwenden gehabt: "Uebrigens ist er mit der Form der Ausführung
so sehr zufrieden, daß er-sich dadurch an Goethes Tasso erinnert findet, was
in der That in Varnhagens Munde sehr viel sagen will und überhaupt sehr
viel gesagt ist." -- Wir können uns dem Urtheil Varnhagens nicht anschließen.
Mit der Tendenz, daß eine sogenannte geniale Lebensauffassung, die sich den
sittlichen Gesetzen entzieht, verwerflich ist und unter Umständen zu tragischen
Conflicten führt, sind wir vollkommen einverstanden; in der Ausführung da¬
gegen werden wir nicht an Goethes Tasso, sondern an den alten Redacteur
der Jahrbücher erinnert, der, sehr geschickt in der Dialektik, vollkommen un¬
behilflich war, wenn es an die Gestaltung ging. Seine Charaktere sind
wesenlose Tendenzfiguren, und nebenbei ist die Tendenz eine sehr unklare.
Das Stück, obgleich, es in der Februarrevolution spielt, setzt eine Zeit voraus,
in welcher die äußern Bande der Ehe wegfallen, so daß die Treue durch


denn das Endurtheil der Nachwelt kann der Dichter nicht abwarten. Bezahlt
wird, was gefällt, ^und die Gesetzgebung hat wenigstens in Bezug aus das
Theater jetzt dafür gesorgt, daß wirklich bezahlt wird. Der Grund des Ge¬
fallens ist oft ein zufälliger, mit der Zeit aber corrigirt sich daS. Aber immer
noch wärmt man den Mythus von dem verhungernden Schiller auf, während
man doch aus seinen Briefen nachlesen kann, daß er nach blos sechs Jahren
erfolgreicher Wirksamkeit und einem sehr bequemen Leben schon ernsthaft anfing
für die Familie zurückzulegen. Wir wollen hier von dem Vergleich der In¬
dustrie ganz absehen, weil hier nicht blos der Verstand, sondern auch das
Capital arbeitet. Man vergleiche aber einmal die Lage der höheren Beamten
(die höchsten Spitzen ausgenommen), die doch wahrhaftig auch einer geistigen
Ausbildung bedürfen und geistig arbeiten, mit der Lage unsrer Schriftsteller,
und man wird finden, daß die letztere unverhältnißmäßig besser ist. — Wenn
man die höchsten Spitzen vergleichen will, so nehme man z. B. das erste Jahr
der konstitutionellen Zeitung in Berlin, welches dem Redacteur in der Theorie
3000, in der Wirklichkeit -18,000 Thlr. einbrachte. — Freilich sind unsre Schrift¬
steller noch nicht in der Lage der beliebten französischen, die bei einer durch¬
schnittlichen Jahreseinnahme von 100,000 Franken fortwährend darüber klagen,
daß sie Hungers sterben müssen. Indeß, wenn wir so weit gekommen sind,
wird es sehr die Frage sein, ob es dann besser mit uns steht. — Man ver¬
zeihe diese Digression, die freilich nicht unmittelbar zum Gegenstande gehört.
Es war nothwendig, einmal diese Frage zu berühren.

Die neue Welt. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, mit
einem Vorspiel: Goethes Ankunft in Walhalla. Von Arnold
Rüge. Leipzig, Brockhaus. — Wir waren nicht wenig verwundert, unsern
alten Freund in dem neuen Gewände wieder anzutreffen, Saul unter den
Propheten! — Rüge sagt in der Vorrede, Varnhagen habe gegen d^'e Tendenz
allerlei einzuwenden gehabt: „Uebrigens ist er mit der Form der Ausführung
so sehr zufrieden, daß er-sich dadurch an Goethes Tasso erinnert findet, was
in der That in Varnhagens Munde sehr viel sagen will und überhaupt sehr
viel gesagt ist." — Wir können uns dem Urtheil Varnhagens nicht anschließen.
Mit der Tendenz, daß eine sogenannte geniale Lebensauffassung, die sich den
sittlichen Gesetzen entzieht, verwerflich ist und unter Umständen zu tragischen
Conflicten führt, sind wir vollkommen einverstanden; in der Ausführung da¬
gegen werden wir nicht an Goethes Tasso, sondern an den alten Redacteur
der Jahrbücher erinnert, der, sehr geschickt in der Dialektik, vollkommen un¬
behilflich war, wenn es an die Gestaltung ging. Seine Charaktere sind
wesenlose Tendenzfiguren, und nebenbei ist die Tendenz eine sehr unklare.
Das Stück, obgleich, es in der Februarrevolution spielt, setzt eine Zeit voraus,
in welcher die äußern Bande der Ehe wegfallen, so daß die Treue durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101801"/>
          <p xml:id="ID_699" prev="#ID_698"> denn das Endurtheil der Nachwelt kann der Dichter nicht abwarten. Bezahlt<lb/>
wird, was gefällt, ^und die Gesetzgebung hat wenigstens in Bezug aus das<lb/>
Theater jetzt dafür gesorgt, daß wirklich bezahlt wird. Der Grund des Ge¬<lb/>
fallens ist oft ein zufälliger, mit der Zeit aber corrigirt sich daS. Aber immer<lb/>
noch wärmt man den Mythus von dem verhungernden Schiller auf, während<lb/>
man doch aus seinen Briefen nachlesen kann, daß er nach blos sechs Jahren<lb/>
erfolgreicher Wirksamkeit und einem sehr bequemen Leben schon ernsthaft anfing<lb/>
für die Familie zurückzulegen. Wir wollen hier von dem Vergleich der In¬<lb/>
dustrie ganz absehen, weil hier nicht blos der Verstand, sondern auch das<lb/>
Capital arbeitet. Man vergleiche aber einmal die Lage der höheren Beamten<lb/>
(die höchsten Spitzen ausgenommen), die doch wahrhaftig auch einer geistigen<lb/>
Ausbildung bedürfen und geistig arbeiten, mit der Lage unsrer Schriftsteller,<lb/>
und man wird finden, daß die letztere unverhältnißmäßig besser ist. &#x2014; Wenn<lb/>
man die höchsten Spitzen vergleichen will, so nehme man z. B. das erste Jahr<lb/>
der konstitutionellen Zeitung in Berlin, welches dem Redacteur in der Theorie<lb/>
3000, in der Wirklichkeit -18,000 Thlr. einbrachte. &#x2014; Freilich sind unsre Schrift¬<lb/>
steller noch nicht in der Lage der beliebten französischen, die bei einer durch¬<lb/>
schnittlichen Jahreseinnahme von 100,000 Franken fortwährend darüber klagen,<lb/>
daß sie Hungers sterben müssen. Indeß, wenn wir so weit gekommen sind,<lb/>
wird es sehr die Frage sein, ob es dann besser mit uns steht. &#x2014; Man ver¬<lb/>
zeihe diese Digression, die freilich nicht unmittelbar zum Gegenstande gehört.<lb/>
Es war nothwendig, einmal diese Frage zu berühren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_700" next="#ID_701"> Die neue Welt. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, mit<lb/>
einem Vorspiel: Goethes Ankunft in Walhalla. Von Arnold<lb/>
Rüge. Leipzig, Brockhaus. &#x2014; Wir waren nicht wenig verwundert, unsern<lb/>
alten Freund in dem neuen Gewände wieder anzutreffen, Saul unter den<lb/>
Propheten! &#x2014; Rüge sagt in der Vorrede, Varnhagen habe gegen d^'e Tendenz<lb/>
allerlei einzuwenden gehabt: &#x201E;Uebrigens ist er mit der Form der Ausführung<lb/>
so sehr zufrieden, daß er-sich dadurch an Goethes Tasso erinnert findet, was<lb/>
in der That in Varnhagens Munde sehr viel sagen will und überhaupt sehr<lb/>
viel gesagt ist." &#x2014; Wir können uns dem Urtheil Varnhagens nicht anschließen.<lb/>
Mit der Tendenz, daß eine sogenannte geniale Lebensauffassung, die sich den<lb/>
sittlichen Gesetzen entzieht, verwerflich ist und unter Umständen zu tragischen<lb/>
Conflicten führt, sind wir vollkommen einverstanden; in der Ausführung da¬<lb/>
gegen werden wir nicht an Goethes Tasso, sondern an den alten Redacteur<lb/>
der Jahrbücher erinnert, der, sehr geschickt in der Dialektik, vollkommen un¬<lb/>
behilflich war, wenn es an die Gestaltung ging. Seine Charaktere sind<lb/>
wesenlose Tendenzfiguren, und nebenbei ist die Tendenz eine sehr unklare.<lb/>
Das Stück, obgleich, es in der Februarrevolution spielt, setzt eine Zeit voraus,<lb/>
in welcher die äußern Bande der Ehe wegfallen, so daß die Treue durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] denn das Endurtheil der Nachwelt kann der Dichter nicht abwarten. Bezahlt wird, was gefällt, ^und die Gesetzgebung hat wenigstens in Bezug aus das Theater jetzt dafür gesorgt, daß wirklich bezahlt wird. Der Grund des Ge¬ fallens ist oft ein zufälliger, mit der Zeit aber corrigirt sich daS. Aber immer noch wärmt man den Mythus von dem verhungernden Schiller auf, während man doch aus seinen Briefen nachlesen kann, daß er nach blos sechs Jahren erfolgreicher Wirksamkeit und einem sehr bequemen Leben schon ernsthaft anfing für die Familie zurückzulegen. Wir wollen hier von dem Vergleich der In¬ dustrie ganz absehen, weil hier nicht blos der Verstand, sondern auch das Capital arbeitet. Man vergleiche aber einmal die Lage der höheren Beamten (die höchsten Spitzen ausgenommen), die doch wahrhaftig auch einer geistigen Ausbildung bedürfen und geistig arbeiten, mit der Lage unsrer Schriftsteller, und man wird finden, daß die letztere unverhältnißmäßig besser ist. — Wenn man die höchsten Spitzen vergleichen will, so nehme man z. B. das erste Jahr der konstitutionellen Zeitung in Berlin, welches dem Redacteur in der Theorie 3000, in der Wirklichkeit -18,000 Thlr. einbrachte. — Freilich sind unsre Schrift¬ steller noch nicht in der Lage der beliebten französischen, die bei einer durch¬ schnittlichen Jahreseinnahme von 100,000 Franken fortwährend darüber klagen, daß sie Hungers sterben müssen. Indeß, wenn wir so weit gekommen sind, wird es sehr die Frage sein, ob es dann besser mit uns steht. — Man ver¬ zeihe diese Digression, die freilich nicht unmittelbar zum Gegenstande gehört. Es war nothwendig, einmal diese Frage zu berühren. Die neue Welt. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, mit einem Vorspiel: Goethes Ankunft in Walhalla. Von Arnold Rüge. Leipzig, Brockhaus. — Wir waren nicht wenig verwundert, unsern alten Freund in dem neuen Gewände wieder anzutreffen, Saul unter den Propheten! — Rüge sagt in der Vorrede, Varnhagen habe gegen d^'e Tendenz allerlei einzuwenden gehabt: „Uebrigens ist er mit der Form der Ausführung so sehr zufrieden, daß er-sich dadurch an Goethes Tasso erinnert findet, was in der That in Varnhagens Munde sehr viel sagen will und überhaupt sehr viel gesagt ist." — Wir können uns dem Urtheil Varnhagens nicht anschließen. Mit der Tendenz, daß eine sogenannte geniale Lebensauffassung, die sich den sittlichen Gesetzen entzieht, verwerflich ist und unter Umständen zu tragischen Conflicten führt, sind wir vollkommen einverstanden; in der Ausführung da¬ gegen werden wir nicht an Goethes Tasso, sondern an den alten Redacteur der Jahrbücher erinnert, der, sehr geschickt in der Dialektik, vollkommen un¬ behilflich war, wenn es an die Gestaltung ging. Seine Charaktere sind wesenlose Tendenzfiguren, und nebenbei ist die Tendenz eine sehr unklare. Das Stück, obgleich, es in der Februarrevolution spielt, setzt eine Zeit voraus, in welcher die äußern Bande der Ehe wegfallen, so daß die Treue durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/274>, abgerufen am 21.06.2024.