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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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schied der goethischen Dichtung von der Dichtung der Idealisten sehr scharf
charakterisirt. Jener suchte die Wirklichkeit zu idealisieren, diese das Ideal zu
verwirklichen, und aus dem letztern käme nur dummes Zeug heraus. In
diesem Sinn nennen wir uns Realisten d. h, wir glauben, daß der Dichter
von dem, was er erlebt, empfunden, erlitten, gehofft, ausgehen muß. Wir
glauben ferner, daß er nur das wahrhaft erleben und empfinden kann, was
mit der allgemeinen sittlichen Substanz, auf der er wurzelt, in Verbindung
steht, d. h. daß der reale Boden, auf dem die classische Dichtkunst aufblühe, der
nationale Boden sein muß.

Aus diesem letztern Zusatz kann der Versasser erkennen, daß die pessimistische
Verirrung der neuesten Dichtung, die er ganz richtig charakterisirt, keineswegs
aus dem Princip des Realismus entspringt. Realität fällt nicht..mit Sonder¬
barkeit zusammen, im höheren Sinn schließen sich vielmehr diese beiden Be¬
griffe einander aus. Wer die Sonderbarkeit, die als Gegensatz gegen den all¬
gemeinen Begriff und das allgemeine Gefühl nur in der komischen Poesie ihre
Stelle findet, als tragisches Motiv benutzt, zeigt eben damit, daß er nicht auf
nationalem d. h. nicht auf realem Boden steht.

Wollen wir deshalb den Einfluß des Hellenismus auf unsre eigne Dich¬
tung verkümmern? -- Nichts könnte unsrer Absicht ferner liegen.

Die griechisch-römische Bildung ist einmal wirklich eine Hauptquelle unsrer
eignen Cultur; sie ist der eine Factor derselben, das christlich-germanische Prjn-
cip ist der andere; wir werden also nur unsrer wirklichen Geschichte gerecht,
wenn wir' den einen Factor so gut zur Geltung bringen, als den andern.
Wenn z. B. die Romantiker versuchten, im Sinn Wolframs von Eschenbach
zu dichten, so entfernten sie sich von unsrer geschichtlichen Bildung viel weiter,
als diejenigen, die den Virgil oder Horaz zum Vorbild nahmen.

Das Alterthum ist ferner ein nothwendiges Correctiv gegen die Ueber¬
treibungen einer einseitigen, gegen die Verworrenheit einer unklaren Bildung.
Mit Recht legt man auf unfern Schulen die griechisch-römische Literatur zu
Grunde, denn nur in ihr lernt der noch Unentwickelte Klarheit, Maß, Plastik
der Anschauung und Folgerichtigkeit des Denkens. Noch viel nothwendiger ist
dieses Studium für denjenigen, welcher der Nation als Lehrer und Dichter
vorleuchten will. Die philologische Bildung ist durch nichts zu ersetzen und
ihre Vernachlässigung rächt sich unausbleiblich, wenige besonders glückliche
Fälle ausgenommen, durch Rohheit und Unnatur.

Aber wie der Knabe auf der Schule nicht deshalb Lateinisch und Griechisch
lernt, um sich in dieser Sprache auszudrücken, oder um den griechischen Göttern
Altäre aufzurichten, sondern um in dieser Gymnastik des Geistes zu lernen,
wie er den sittlich-historischen Stoff, der ihm von anderer Seite her überliefert
ist, gestalten soll, so muß es auch mit dem Dichter geschehen. In der Schule


Grenzboten. II. 4 27

schied der goethischen Dichtung von der Dichtung der Idealisten sehr scharf
charakterisirt. Jener suchte die Wirklichkeit zu idealisieren, diese das Ideal zu
verwirklichen, und aus dem letztern käme nur dummes Zeug heraus. In
diesem Sinn nennen wir uns Realisten d. h, wir glauben, daß der Dichter
von dem, was er erlebt, empfunden, erlitten, gehofft, ausgehen muß. Wir
glauben ferner, daß er nur das wahrhaft erleben und empfinden kann, was
mit der allgemeinen sittlichen Substanz, auf der er wurzelt, in Verbindung
steht, d. h. daß der reale Boden, auf dem die classische Dichtkunst aufblühe, der
nationale Boden sein muß.

Aus diesem letztern Zusatz kann der Versasser erkennen, daß die pessimistische
Verirrung der neuesten Dichtung, die er ganz richtig charakterisirt, keineswegs
aus dem Princip des Realismus entspringt. Realität fällt nicht..mit Sonder¬
barkeit zusammen, im höheren Sinn schließen sich vielmehr diese beiden Be¬
griffe einander aus. Wer die Sonderbarkeit, die als Gegensatz gegen den all¬
gemeinen Begriff und das allgemeine Gefühl nur in der komischen Poesie ihre
Stelle findet, als tragisches Motiv benutzt, zeigt eben damit, daß er nicht auf
nationalem d. h. nicht auf realem Boden steht.

Wollen wir deshalb den Einfluß des Hellenismus auf unsre eigne Dich¬
tung verkümmern? — Nichts könnte unsrer Absicht ferner liegen.

Die griechisch-römische Bildung ist einmal wirklich eine Hauptquelle unsrer
eignen Cultur; sie ist der eine Factor derselben, das christlich-germanische Prjn-
cip ist der andere; wir werden also nur unsrer wirklichen Geschichte gerecht,
wenn wir' den einen Factor so gut zur Geltung bringen, als den andern.
Wenn z. B. die Romantiker versuchten, im Sinn Wolframs von Eschenbach
zu dichten, so entfernten sie sich von unsrer geschichtlichen Bildung viel weiter,
als diejenigen, die den Virgil oder Horaz zum Vorbild nahmen.

Das Alterthum ist ferner ein nothwendiges Correctiv gegen die Ueber¬
treibungen einer einseitigen, gegen die Verworrenheit einer unklaren Bildung.
Mit Recht legt man auf unfern Schulen die griechisch-römische Literatur zu
Grunde, denn nur in ihr lernt der noch Unentwickelte Klarheit, Maß, Plastik
der Anschauung und Folgerichtigkeit des Denkens. Noch viel nothwendiger ist
dieses Studium für denjenigen, welcher der Nation als Lehrer und Dichter
vorleuchten will. Die philologische Bildung ist durch nichts zu ersetzen und
ihre Vernachlässigung rächt sich unausbleiblich, wenige besonders glückliche
Fälle ausgenommen, durch Rohheit und Unnatur.

Aber wie der Knabe auf der Schule nicht deshalb Lateinisch und Griechisch
lernt, um sich in dieser Sprache auszudrücken, oder um den griechischen Göttern
Altäre aufzurichten, sondern um in dieser Gymnastik des Geistes zu lernen,
wie er den sittlich-historischen Stoff, der ihm von anderer Seite her überliefert
ist, gestalten soll, so muß es auch mit dem Dichter geschehen. In der Schule


Grenzboten. II. 4 27
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/217>, abgerufen am 27.07.2024.