Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

stimmen wir mit ihm überein. Aber er billigt zugleich das Princip der
goethe-Schillerschen Periode und stellt es als das allein richtige dar, und er
mißbilligt das Princip der neuesten Poesie: in beiden, weichen wir von
ihm ab.

Er hat sich einmal darüber gewundert, daß wir im Grunde mit der rea¬
listischen Richtung der neuen Poesie einverstanden sind Und doch ihre einzelnen
Leistungen verwerfen. Der Grund liegt darin, daß Princip und Ausführung
nicht immer zusammenfallen. Einmal stehen die neuern Dichter an Talent den
ältern nach, sodann haben sie sich zu falschen Consequenzen verleiten lassen, -
wie das in einer Zeit des Sturmes und Dranges nur zu natürlich ist. Die
Fehler, in welche sie aber verfallen sind, gehen keineswegs mit Nothwendigkeit
aus ihrem Princip Hervor.

Jede echte Poesie muß nach unsrer Ueberzeugung aus dem innern Leben
der Nation heraus schöpfen, wie das Sophokles, Dante, Cervantes, Shake¬
speare, Calderon, Molisre u. f. w., kurz alle großen Dichter, mit Ausnahme
der deutschen wirklich gethan. Goethe hat es in seiner ersten Periode gleich¬
falls versucht; er ging aber in seiner zweiten davon ab und bemühte sich im
Verein mit Schiller nach dem Vorbild der Alten ohne alle Rücksicht auf. den
Inhalt seines eignen Volks zu dichten. Diesen Versuch halten wir für ver¬
werflich, und wenn beide Dichter dennoch innerhalb desselben sehr große, zum
Theil mustergiltige Kunstwerke geschaffen haben, so war das nicht wegen, son¬
dern ungeachtet ihres falschen Princips, und um das bestimmter auszudrücken: -
sie haben so weit Großes und Unvergängliches geleistet, als sie das Alterthum,
wie es aus den Gymnasien geschieht, lediglich als formales Bildungselement,
als gymnastische Kunstschule benuyt haben; sie haben fehlgegriffen, so weit
sie darüber hinausgingen und in vollem Ernst Griechen zu werden versuchten.
Man vergleiche Hermann und Dorothee mit Alcris und Dora, Wallenstein
mit der Braut von Messina: dort haben die Dichter aus ihren Vorbildern nnr
gelernt, wie man sinnliche Klarheit und schönes Maß verbindet; sie haben
einen deutschen Stoff, deutsche Gesinnung und Empfindung in der plastischen
Vollendung, die sie bei den Griechen gelernt, dargestellt. Hier greifen sie da¬
gegen nach einem griechischen Stoff, nach griechischer Gesinnung und Empfin¬
dung und sind infolge dessen nur den Gelehrten verständlich geworden. In
Aleris und Dora, wie in der Braut von Messina sind viele wunderbare
Schönheiten, Schönheiten, die aus dem verborgensten geheimnißvollen Quell
'der Dichtung entspringen; aber sie können vom Volk nicht genossen werden,
denn das Volk empfindet anders als der Dichter, und hat Recht, anders z"
empfinden. Noch auffallender ist das bei Schillers lyrischen Gedichten; doch
begnügen wir uns mit dieser bloßen Hindeutung, da wir uns an einem andern
Ort ausführlicher darüber ausgesprochen haben. Merck hat einmal den Unter-


stimmen wir mit ihm überein. Aber er billigt zugleich das Princip der
goethe-Schillerschen Periode und stellt es als das allein richtige dar, und er
mißbilligt das Princip der neuesten Poesie: in beiden, weichen wir von
ihm ab.

Er hat sich einmal darüber gewundert, daß wir im Grunde mit der rea¬
listischen Richtung der neuen Poesie einverstanden sind Und doch ihre einzelnen
Leistungen verwerfen. Der Grund liegt darin, daß Princip und Ausführung
nicht immer zusammenfallen. Einmal stehen die neuern Dichter an Talent den
ältern nach, sodann haben sie sich zu falschen Consequenzen verleiten lassen, -
wie das in einer Zeit des Sturmes und Dranges nur zu natürlich ist. Die
Fehler, in welche sie aber verfallen sind, gehen keineswegs mit Nothwendigkeit
aus ihrem Princip Hervor.

Jede echte Poesie muß nach unsrer Ueberzeugung aus dem innern Leben
der Nation heraus schöpfen, wie das Sophokles, Dante, Cervantes, Shake¬
speare, Calderon, Molisre u. f. w., kurz alle großen Dichter, mit Ausnahme
der deutschen wirklich gethan. Goethe hat es in seiner ersten Periode gleich¬
falls versucht; er ging aber in seiner zweiten davon ab und bemühte sich im
Verein mit Schiller nach dem Vorbild der Alten ohne alle Rücksicht auf. den
Inhalt seines eignen Volks zu dichten. Diesen Versuch halten wir für ver¬
werflich, und wenn beide Dichter dennoch innerhalb desselben sehr große, zum
Theil mustergiltige Kunstwerke geschaffen haben, so war das nicht wegen, son¬
dern ungeachtet ihres falschen Princips, und um das bestimmter auszudrücken: -
sie haben so weit Großes und Unvergängliches geleistet, als sie das Alterthum,
wie es aus den Gymnasien geschieht, lediglich als formales Bildungselement,
als gymnastische Kunstschule benuyt haben; sie haben fehlgegriffen, so weit
sie darüber hinausgingen und in vollem Ernst Griechen zu werden versuchten.
Man vergleiche Hermann und Dorothee mit Alcris und Dora, Wallenstein
mit der Braut von Messina: dort haben die Dichter aus ihren Vorbildern nnr
gelernt, wie man sinnliche Klarheit und schönes Maß verbindet; sie haben
einen deutschen Stoff, deutsche Gesinnung und Empfindung in der plastischen
Vollendung, die sie bei den Griechen gelernt, dargestellt. Hier greifen sie da¬
gegen nach einem griechischen Stoff, nach griechischer Gesinnung und Empfin¬
dung und sind infolge dessen nur den Gelehrten verständlich geworden. In
Aleris und Dora, wie in der Braut von Messina sind viele wunderbare
Schönheiten, Schönheiten, die aus dem verborgensten geheimnißvollen Quell
'der Dichtung entspringen; aber sie können vom Volk nicht genossen werden,
denn das Volk empfindet anders als der Dichter, und hat Recht, anders z»
empfinden. Noch auffallender ist das bei Schillers lyrischen Gedichten; doch
begnügen wir uns mit dieser bloßen Hindeutung, da wir uns an einem andern
Ort ausführlicher darüber ausgesprochen haben. Merck hat einmal den Unter-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0216" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101743"/>
            <p xml:id="ID_534" prev="#ID_533"> stimmen wir mit ihm überein. Aber er billigt zugleich das Princip der<lb/>
goethe-Schillerschen Periode und stellt es als das allein richtige dar, und er<lb/>
mißbilligt das Princip der neuesten Poesie: in beiden, weichen wir von<lb/>
ihm ab.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_535"> Er hat sich einmal darüber gewundert, daß wir im Grunde mit der rea¬<lb/>
listischen Richtung der neuen Poesie einverstanden sind Und doch ihre einzelnen<lb/>
Leistungen verwerfen. Der Grund liegt darin, daß Princip und Ausführung<lb/>
nicht immer zusammenfallen. Einmal stehen die neuern Dichter an Talent den<lb/>
ältern nach, sodann haben sie sich zu falschen Consequenzen verleiten lassen, -<lb/>
wie das in einer Zeit des Sturmes und Dranges nur zu natürlich ist. Die<lb/>
Fehler, in welche sie aber verfallen sind, gehen keineswegs mit Nothwendigkeit<lb/>
aus ihrem Princip Hervor.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_536" next="#ID_537"> Jede echte Poesie muß nach unsrer Ueberzeugung aus dem innern Leben<lb/>
der Nation heraus schöpfen, wie das Sophokles, Dante, Cervantes, Shake¬<lb/>
speare, Calderon, Molisre u. f. w., kurz alle großen Dichter, mit Ausnahme<lb/>
der deutschen wirklich gethan. Goethe hat es in seiner ersten Periode gleich¬<lb/>
falls versucht; er ging aber in seiner zweiten davon ab und bemühte sich im<lb/>
Verein mit Schiller nach dem Vorbild der Alten ohne alle Rücksicht auf. den<lb/>
Inhalt seines eignen Volks zu dichten. Diesen Versuch halten wir für ver¬<lb/>
werflich, und wenn beide Dichter dennoch innerhalb desselben sehr große, zum<lb/>
Theil mustergiltige Kunstwerke geschaffen haben, so war das nicht wegen, son¬<lb/>
dern ungeachtet ihres falschen Princips, und um das bestimmter auszudrücken: -<lb/>
sie haben so weit Großes und Unvergängliches geleistet, als sie das Alterthum,<lb/>
wie es aus den Gymnasien geschieht, lediglich als formales Bildungselement,<lb/>
als gymnastische Kunstschule benuyt haben; sie haben fehlgegriffen, so weit<lb/>
sie darüber hinausgingen und in vollem Ernst Griechen zu werden versuchten.<lb/>
Man vergleiche Hermann und Dorothee mit Alcris und Dora, Wallenstein<lb/>
mit der Braut von Messina: dort haben die Dichter aus ihren Vorbildern nnr<lb/>
gelernt, wie man sinnliche Klarheit und schönes Maß verbindet; sie haben<lb/>
einen deutschen Stoff, deutsche Gesinnung und Empfindung in der plastischen<lb/>
Vollendung, die sie bei den Griechen gelernt, dargestellt. Hier greifen sie da¬<lb/>
gegen nach einem griechischen Stoff, nach griechischer Gesinnung und Empfin¬<lb/>
dung und sind infolge dessen nur den Gelehrten verständlich geworden. In<lb/>
Aleris und Dora, wie in der Braut von Messina sind viele wunderbare<lb/>
Schönheiten, Schönheiten, die aus dem verborgensten geheimnißvollen Quell<lb/>
'der Dichtung entspringen; aber sie können vom Volk nicht genossen werden,<lb/>
denn das Volk empfindet anders als der Dichter, und hat Recht, anders z»<lb/>
empfinden. Noch auffallender ist das bei Schillers lyrischen Gedichten; doch<lb/>
begnügen wir uns mit dieser bloßen Hindeutung, da wir uns an einem andern<lb/>
Ort ausführlicher darüber ausgesprochen haben.  Merck hat einmal den Unter-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0216] stimmen wir mit ihm überein. Aber er billigt zugleich das Princip der goethe-Schillerschen Periode und stellt es als das allein richtige dar, und er mißbilligt das Princip der neuesten Poesie: in beiden, weichen wir von ihm ab. Er hat sich einmal darüber gewundert, daß wir im Grunde mit der rea¬ listischen Richtung der neuen Poesie einverstanden sind Und doch ihre einzelnen Leistungen verwerfen. Der Grund liegt darin, daß Princip und Ausführung nicht immer zusammenfallen. Einmal stehen die neuern Dichter an Talent den ältern nach, sodann haben sie sich zu falschen Consequenzen verleiten lassen, - wie das in einer Zeit des Sturmes und Dranges nur zu natürlich ist. Die Fehler, in welche sie aber verfallen sind, gehen keineswegs mit Nothwendigkeit aus ihrem Princip Hervor. Jede echte Poesie muß nach unsrer Ueberzeugung aus dem innern Leben der Nation heraus schöpfen, wie das Sophokles, Dante, Cervantes, Shake¬ speare, Calderon, Molisre u. f. w., kurz alle großen Dichter, mit Ausnahme der deutschen wirklich gethan. Goethe hat es in seiner ersten Periode gleich¬ falls versucht; er ging aber in seiner zweiten davon ab und bemühte sich im Verein mit Schiller nach dem Vorbild der Alten ohne alle Rücksicht auf. den Inhalt seines eignen Volks zu dichten. Diesen Versuch halten wir für ver¬ werflich, und wenn beide Dichter dennoch innerhalb desselben sehr große, zum Theil mustergiltige Kunstwerke geschaffen haben, so war das nicht wegen, son¬ dern ungeachtet ihres falschen Princips, und um das bestimmter auszudrücken: - sie haben so weit Großes und Unvergängliches geleistet, als sie das Alterthum, wie es aus den Gymnasien geschieht, lediglich als formales Bildungselement, als gymnastische Kunstschule benuyt haben; sie haben fehlgegriffen, so weit sie darüber hinausgingen und in vollem Ernst Griechen zu werden versuchten. Man vergleiche Hermann und Dorothee mit Alcris und Dora, Wallenstein mit der Braut von Messina: dort haben die Dichter aus ihren Vorbildern nnr gelernt, wie man sinnliche Klarheit und schönes Maß verbindet; sie haben einen deutschen Stoff, deutsche Gesinnung und Empfindung in der plastischen Vollendung, die sie bei den Griechen gelernt, dargestellt. Hier greifen sie da¬ gegen nach einem griechischen Stoff, nach griechischer Gesinnung und Empfin¬ dung und sind infolge dessen nur den Gelehrten verständlich geworden. In Aleris und Dora, wie in der Braut von Messina sind viele wunderbare Schönheiten, Schönheiten, die aus dem verborgensten geheimnißvollen Quell 'der Dichtung entspringen; aber sie können vom Volk nicht genossen werden, denn das Volk empfindet anders als der Dichter, und hat Recht, anders z» empfinden. Noch auffallender ist das bei Schillers lyrischen Gedichten; doch begnügen wir uns mit dieser bloßen Hindeutung, da wir uns an einem andern Ort ausführlicher darüber ausgesprochen haben. Merck hat einmal den Unter-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/216
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/216>, abgerufen am 05.07.2024.