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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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kann ihren Gegenstand vollständig darstellen, sie kann gewissermaßen nach den
Grundsätzen der epischen Dichtung zu Werke gehen; die Literaturgeschichte kann
es nicht, sie muß das Maß dessen, was sie darzustellen unternimmt, nicht aus
der Sache selbst, sondern hauptsächlich aus dem Bildungsgrad ihres Publicums
entnehmen. Ein geschichtlicher Charakter läßt sich vollständig darstellen, ein
Kunstwerk nicht. Der Literaturhistoriker muß daher nothwendig eine gewisse
Kenntniß seines Gegenstandes voraussetzen oder wenigstens zu derselben an¬
regen wollen, weil ohne dieselbe seine Bemühung fruchtlos ist.

Indem nun jeder Geschichtschreiber sich bemüht, diejenigen Seiten seines
Gegenstandes hervorzuheben, die ihm zur heilsamen Entwicklung des gebilde¬
ten Publicums und damit indirect der Dichtkunst nothwendig erscheinen, ent¬
steht nicht blos durch die Verschiedenartigkeit der Färbung, sondern auch durch
das verschiedene Motiv der Auswahl eine gewisse Verwirrung!" die nur dadurch
ausgeglichen werden kann, daß nebenbei auch noch eine rein sachgemäße ten¬
denziöse Darstellung besteht. Den günstigsten Standpunkt zu einem solchen Unter¬
nehmen nimmt der Lehrer ein, der sich hüten wird, seine Schüler zu einem
voreiligen Urtheil herauszufordern, dessen Streben vielmehr vor'allen Dingen
darauf geht, ihnen das Material in möglichster Vollständigkeit und systematischer
Ordnung vorzulegen. In dieser Beziehung ist das Lehrbuch der Literatur-
geschichte von Koberstein die wesentliche und nothwendige Ergänzung aller neuen
Bearbeitungen dieses Gegenstandes, Gewinns nicht ausgeschlossen, denn auch
dieser, obgleich er ausführlicher referirt und sich mehr auf die Zeiten einläßt,
die außerhalb des Streits liegen, geht doch von einer sehr bestimmten Tendenz
aus und gibt daher seinem Bericht eine Farbe, die nicht ausschließlich aus der
Natur des Gegenstandes hervorgeht.

Die erste Ausgabe des Kobersteinschen Lehrbuchs erschien 1827, die dritte
1837, die vierte wurde 186ö begonnen, 18S1 fortgesetzt und der Verfasser hat
noch nicht bestimmen können, wann der Schluß erscheinen wird. Es liegt in
dieser allmäligen Entstehung des Buchs namentlich für den praktischen Gebrauch
desselben etwas sehr Mißliches und je höher wir den Werth dieses vortrefflichen
WerkH anschlagen, je wärmer wir seine Verbreitung vertreten, desto lebhafter
müssen wir. wünschen, daß Verfasser und Verleger etwas dazu thun, es dem
Publicum zugänglicher zu machen. Was bisher erschienen ist, besteht aus 1828
starken Seiten, die unbroschirt ausgegeben werden. Die letzte Lieferung bricht
mitten im Satz ab. Es ist weder ein Jnhaltsverzeichniß, noch ein Register da
und die Ueberschriften der Seiten nützen auch nichts, da sie weiter nichts geben,
als die Anzeige der Periode. Dazu kommt noch serner, daß namentlich in der
neuern Zeit die Anmerkungen so anwachsen, daß zuweilen auf mehren Seiten
nur eine Zeile Text, zuweilen auch gar keine sich findet. Zur eigentlichen Lectüre'
>se das Buch nicht eingerichtet, und das Nachschlagen wird unmöglich gemacht.


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kann ihren Gegenstand vollständig darstellen, sie kann gewissermaßen nach den
Grundsätzen der epischen Dichtung zu Werke gehen; die Literaturgeschichte kann
es nicht, sie muß das Maß dessen, was sie darzustellen unternimmt, nicht aus
der Sache selbst, sondern hauptsächlich aus dem Bildungsgrad ihres Publicums
entnehmen. Ein geschichtlicher Charakter läßt sich vollständig darstellen, ein
Kunstwerk nicht. Der Literaturhistoriker muß daher nothwendig eine gewisse
Kenntniß seines Gegenstandes voraussetzen oder wenigstens zu derselben an¬
regen wollen, weil ohne dieselbe seine Bemühung fruchtlos ist.

Indem nun jeder Geschichtschreiber sich bemüht, diejenigen Seiten seines
Gegenstandes hervorzuheben, die ihm zur heilsamen Entwicklung des gebilde¬
ten Publicums und damit indirect der Dichtkunst nothwendig erscheinen, ent¬
steht nicht blos durch die Verschiedenartigkeit der Färbung, sondern auch durch
das verschiedene Motiv der Auswahl eine gewisse Verwirrung!» die nur dadurch
ausgeglichen werden kann, daß nebenbei auch noch eine rein sachgemäße ten¬
denziöse Darstellung besteht. Den günstigsten Standpunkt zu einem solchen Unter¬
nehmen nimmt der Lehrer ein, der sich hüten wird, seine Schüler zu einem
voreiligen Urtheil herauszufordern, dessen Streben vielmehr vor'allen Dingen
darauf geht, ihnen das Material in möglichster Vollständigkeit und systematischer
Ordnung vorzulegen. In dieser Beziehung ist das Lehrbuch der Literatur-
geschichte von Koberstein die wesentliche und nothwendige Ergänzung aller neuen
Bearbeitungen dieses Gegenstandes, Gewinns nicht ausgeschlossen, denn auch
dieser, obgleich er ausführlicher referirt und sich mehr auf die Zeiten einläßt,
die außerhalb des Streits liegen, geht doch von einer sehr bestimmten Tendenz
aus und gibt daher seinem Bericht eine Farbe, die nicht ausschließlich aus der
Natur des Gegenstandes hervorgeht.

Die erste Ausgabe des Kobersteinschen Lehrbuchs erschien 1827, die dritte
1837, die vierte wurde 186ö begonnen, 18S1 fortgesetzt und der Verfasser hat
noch nicht bestimmen können, wann der Schluß erscheinen wird. Es liegt in
dieser allmäligen Entstehung des Buchs namentlich für den praktischen Gebrauch
desselben etwas sehr Mißliches und je höher wir den Werth dieses vortrefflichen
WerkH anschlagen, je wärmer wir seine Verbreitung vertreten, desto lebhafter
müssen wir. wünschen, daß Verfasser und Verleger etwas dazu thun, es dem
Publicum zugänglicher zu machen. Was bisher erschienen ist, besteht aus 1828
starken Seiten, die unbroschirt ausgegeben werden. Die letzte Lieferung bricht
mitten im Satz ab. Es ist weder ein Jnhaltsverzeichniß, noch ein Register da
und die Ueberschriften der Seiten nützen auch nichts, da sie weiter nichts geben,
als die Anzeige der Periode. Dazu kommt noch serner, daß namentlich in der
neuern Zeit die Anmerkungen so anwachsen, daß zuweilen auf mehren Seiten
nur eine Zeile Text, zuweilen auch gar keine sich findet. Zur eigentlichen Lectüre'
>se das Buch nicht eingerichtet, und das Nachschlagen wird unmöglich gemacht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/211>, abgerufen am 27.07.2024.