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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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das objective ästhetische Urtheil nicht beeinträchtigt. Wer würde z.B. in unsern
Tagen sich noch dazu hergeben, den Werth Shakespeares oder Calderons ledig¬
lich nach formalen Principien der Aesthetik zu prüfen? Wer würde nicht die
Nothwendigkeit fühlen, auf ihren sittlichen Inhalt einzugehen und die Wechsel¬
wirkung zu betrachten, die zwischen ihren sittlich-religiösen Voraussetzungen
und ihren poetischen Idealen besteht? Ja, je entschiedener sich der Literatur¬
historiker auf diesen Standpunkt versetzt, desto unbefangener kann er in seinem
ästhetischen Urtheil zu Werke gehen; er kann dem spanischen Dichter eine voll¬
ständige poetische Ehrenerklärung geben, wenn er nur vorher vorausschickt, daß
sein poetisches Ideal auf Kosten der höhern sittlichen Ideen sich entwickelte.
Dieser historische Standpunkt rst ebensoweit von dem einseitig moralisirenden
Pragmatismus, als von der affectlosen Objectivität entfernt, welche den Wahn
hegte, die Kunst sei nur um der Kunst willen da.

Je verwickelter aber die Beziehungen sind, die von diesem historischen
Standpunkt aus die Literatur mit' dem Leben verzweigen, desto schwieriger wird
die Darstellung, desto nachsichtiger wird man gegen jeden Versuch sein müssen,
in dem man wenigstens den redlichen Willen herauserkennt. ' Am besten fühlt
das, wer selbst einen Versuch der Art unternommen hat, wie z. B. der gegen¬
wärtige Berichterstatter.

Leichter hat es derjenige Geschichtschreiber, der nach der Schlosserschen Methode
die Literatur gewissermaßen nur als eine Episode der politischen Geschichte be¬
trachtet. Versucht man dagegen die Literatur sür sich selbst darzustellen, so er¬
geben sich Schwierigkeiten, von denen der politische Geschichtschreiber keinen
Begriff hat.

Für die eigentliche Geschichtschreibung läßt sich ein bestimmtes Ideal denken,
das man zwar nie erreichen, das man aber als feststehend betrachten und dem
man unablässig nachstreben kann. Jedes wahrhaft historische Werk muß in
seiner Art ein Kunstwerk sein, das auf den Kundigen wie auf den Unkundigen
eine gleich wohlthuende Wirkung macht. Das Maß, welches die Erzählung, die
Schilderung, die Charakteristik, das Urtheil einzunehmen haben, läßt sich aus
der Natur der Sache heraus bestimmen; der Geschichtschreiber hat nicht nöthig,
sich ein bestimmtes Publicum mit bestimmten Voraussetzungen -des Wissens und
der Bildung vor Augen zu halten. Von gelehrten Forschungen reden wir
natürlich ebensowenig, als von Compenvien oder von der sogenannten popu¬
lären Literatur. Bei einem classischen Geschichtswerk, wie es z. B. Macaulay
geliefert hat, wird die Freude dessen, der die Geschichte daraus erst lernt, von
der Freude dessen, der sie bereits kennt, sich nur so unterscheiden, wie etwa
einer, der den Faust zum ersten Mal, von dem, der ihn zum zwanzigsten Mal
liest.

Ganz anders der Geschichtschreiber der Literatur. Die politische Geschichte


das objective ästhetische Urtheil nicht beeinträchtigt. Wer würde z.B. in unsern
Tagen sich noch dazu hergeben, den Werth Shakespeares oder Calderons ledig¬
lich nach formalen Principien der Aesthetik zu prüfen? Wer würde nicht die
Nothwendigkeit fühlen, auf ihren sittlichen Inhalt einzugehen und die Wechsel¬
wirkung zu betrachten, die zwischen ihren sittlich-religiösen Voraussetzungen
und ihren poetischen Idealen besteht? Ja, je entschiedener sich der Literatur¬
historiker auf diesen Standpunkt versetzt, desto unbefangener kann er in seinem
ästhetischen Urtheil zu Werke gehen; er kann dem spanischen Dichter eine voll¬
ständige poetische Ehrenerklärung geben, wenn er nur vorher vorausschickt, daß
sein poetisches Ideal auf Kosten der höhern sittlichen Ideen sich entwickelte.
Dieser historische Standpunkt rst ebensoweit von dem einseitig moralisirenden
Pragmatismus, als von der affectlosen Objectivität entfernt, welche den Wahn
hegte, die Kunst sei nur um der Kunst willen da.

Je verwickelter aber die Beziehungen sind, die von diesem historischen
Standpunkt aus die Literatur mit' dem Leben verzweigen, desto schwieriger wird
die Darstellung, desto nachsichtiger wird man gegen jeden Versuch sein müssen,
in dem man wenigstens den redlichen Willen herauserkennt. ' Am besten fühlt
das, wer selbst einen Versuch der Art unternommen hat, wie z. B. der gegen¬
wärtige Berichterstatter.

Leichter hat es derjenige Geschichtschreiber, der nach der Schlosserschen Methode
die Literatur gewissermaßen nur als eine Episode der politischen Geschichte be¬
trachtet. Versucht man dagegen die Literatur sür sich selbst darzustellen, so er¬
geben sich Schwierigkeiten, von denen der politische Geschichtschreiber keinen
Begriff hat.

Für die eigentliche Geschichtschreibung läßt sich ein bestimmtes Ideal denken,
das man zwar nie erreichen, das man aber als feststehend betrachten und dem
man unablässig nachstreben kann. Jedes wahrhaft historische Werk muß in
seiner Art ein Kunstwerk sein, das auf den Kundigen wie auf den Unkundigen
eine gleich wohlthuende Wirkung macht. Das Maß, welches die Erzählung, die
Schilderung, die Charakteristik, das Urtheil einzunehmen haben, läßt sich aus
der Natur der Sache heraus bestimmen; der Geschichtschreiber hat nicht nöthig,
sich ein bestimmtes Publicum mit bestimmten Voraussetzungen -des Wissens und
der Bildung vor Augen zu halten. Von gelehrten Forschungen reden wir
natürlich ebensowenig, als von Compenvien oder von der sogenannten popu¬
lären Literatur. Bei einem classischen Geschichtswerk, wie es z. B. Macaulay
geliefert hat, wird die Freude dessen, der die Geschichte daraus erst lernt, von
der Freude dessen, der sie bereits kennt, sich nur so unterscheiden, wie etwa
einer, der den Faust zum ersten Mal, von dem, der ihn zum zwanzigsten Mal
liest.

Ganz anders der Geschichtschreiber der Literatur. Die politische Geschichte


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[0210] das objective ästhetische Urtheil nicht beeinträchtigt. Wer würde z.B. in unsern Tagen sich noch dazu hergeben, den Werth Shakespeares oder Calderons ledig¬ lich nach formalen Principien der Aesthetik zu prüfen? Wer würde nicht die Nothwendigkeit fühlen, auf ihren sittlichen Inhalt einzugehen und die Wechsel¬ wirkung zu betrachten, die zwischen ihren sittlich-religiösen Voraussetzungen und ihren poetischen Idealen besteht? Ja, je entschiedener sich der Literatur¬ historiker auf diesen Standpunkt versetzt, desto unbefangener kann er in seinem ästhetischen Urtheil zu Werke gehen; er kann dem spanischen Dichter eine voll¬ ständige poetische Ehrenerklärung geben, wenn er nur vorher vorausschickt, daß sein poetisches Ideal auf Kosten der höhern sittlichen Ideen sich entwickelte. Dieser historische Standpunkt rst ebensoweit von dem einseitig moralisirenden Pragmatismus, als von der affectlosen Objectivität entfernt, welche den Wahn hegte, die Kunst sei nur um der Kunst willen da. Je verwickelter aber die Beziehungen sind, die von diesem historischen Standpunkt aus die Literatur mit' dem Leben verzweigen, desto schwieriger wird die Darstellung, desto nachsichtiger wird man gegen jeden Versuch sein müssen, in dem man wenigstens den redlichen Willen herauserkennt. ' Am besten fühlt das, wer selbst einen Versuch der Art unternommen hat, wie z. B. der gegen¬ wärtige Berichterstatter. Leichter hat es derjenige Geschichtschreiber, der nach der Schlosserschen Methode die Literatur gewissermaßen nur als eine Episode der politischen Geschichte be¬ trachtet. Versucht man dagegen die Literatur sür sich selbst darzustellen, so er¬ geben sich Schwierigkeiten, von denen der politische Geschichtschreiber keinen Begriff hat. Für die eigentliche Geschichtschreibung läßt sich ein bestimmtes Ideal denken, das man zwar nie erreichen, das man aber als feststehend betrachten und dem man unablässig nachstreben kann. Jedes wahrhaft historische Werk muß in seiner Art ein Kunstwerk sein, das auf den Kundigen wie auf den Unkundigen eine gleich wohlthuende Wirkung macht. Das Maß, welches die Erzählung, die Schilderung, die Charakteristik, das Urtheil einzunehmen haben, läßt sich aus der Natur der Sache heraus bestimmen; der Geschichtschreiber hat nicht nöthig, sich ein bestimmtes Publicum mit bestimmten Voraussetzungen -des Wissens und der Bildung vor Augen zu halten. Von gelehrten Forschungen reden wir natürlich ebensowenig, als von Compenvien oder von der sogenannten popu¬ lären Literatur. Bei einem classischen Geschichtswerk, wie es z. B. Macaulay geliefert hat, wird die Freude dessen, der die Geschichte daraus erst lernt, von der Freude dessen, der sie bereits kennt, sich nur so unterscheiden, wie etwa einer, der den Faust zum ersten Mal, von dem, der ihn zum zwanzigsten Mal liest. Ganz anders der Geschichtschreiber der Literatur. Die politische Geschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/210>, abgerufen am 05.07.2024.