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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Recht zu antiquircnder früherer Paradestücke zur Langenweile jedes seiner ge¬
bildeten Kunstverständigen aus dem Notenschrank hervorzusuchen; 'wie ökonomische
Hausfrauen nicht gern sehen, w"?um liebes Gut verkommt, und mit liebens¬
würdiger Unverschämtheit Abgestandenes unter Frisches mengen.

Viel lieber einige Simphonien von Haydn mehr im nächsten Jahr und
dafür das Andante mit dem Paukenschlag weniger affectirt vorgetragen, als
es dieses Jahr geschah. Haydn hätte sicher ein Lächeln nicht unterdrücken
können, wenn er den grundcinfachen Gedanken seines Andante mit allen Tücken
des Piano und Crescendo hätte vortragen hören. Was gäbe ich drum, wenn
ich drei oder vier Ouvertüren dieses Winterhalbjahr nicht nöthig gehabt hätte
mit anhören zu müssen, dafür aber bei Beethovens Coriolanouverture, in den
mächtigen Fortestellen mehr Violintöne gehört hätte, als jenes unangenehme
Geräusch, welches entsteht, wenn der Geiger ein Forte erzwingen will, das
nicht in den Grenzen seines Instruments liegt. Von Mozarts Simphonien
erschienen auch nur zwei; eine dritte in dem Ertraconcert zur Mozartfeier mit
musterhafter Ausführung, so wie wir hier auch des Doppelconcertö für Violine
und Bratsche desselben Meisters gedenken wollen, theils wegen der Schönheit
des Stückes, theils wegen dessen vortrefflicher Ausführung. Dergleichen konnte,
nur in Leipzig gehört werden. Prüft man den Werth der Stücke, welche
im Laufe der Abonnementconcerte zur Aufführung kamen, um der Virtuosität
der Spieler, Geiger und Bläser ihr Recht zu verschaffen, so zählt man beinah
zwei Dutzend, von denen kaum ein Drittel musikalischen Werth besitzen, volle
zwei Drittel aber nie darauf Anspruch machen dürfen, daß man ihnen neben
Beethoven und Mozart auch nur ein halbes Ohr schenkt; ebensowenig wie
den der Sängerwegen zugestandnen rossinischen, bellinischen, donizettischen
Tiraden, mit denen jene Stücke in gleicher Linie stehen und zu deren Ver-
gleichung die Programms so reichliche Auswahl lieferten. Dreimal ver¬
nahm man auch Brocken jener extremen Geister, deren Musik der Gegenwart
durchaus unverständlich ist, denen man also doch sicher den größten Gefallen
erwiese, wenn man sie sammt ihren Leistungen der Zukunft anheimgäbe; aber
auch diese Erfahrungen sollten dem Publicum nicht erspart werden.. Ich habe
das Verhältniß genau berechnet: die Zahl der Meisterwerke, derer von
geringerem Werth und die völlig werthloser verhielt sich wie 4:3:2. Es
wäre doch wol möglich, die letztern allmälig ganz verschwinden zu lassen.
Schwieriger ist es, sich mit der zweiten Reihe in ein richtigeres Verhältniß zu
setzen. Die unter dieser Kategorie begriffenen Compositionen nämlich streifen
in ihrer einen Hälfte an die besten, in ihrer andern aber kann man ein all-
mäliges Sinken zur Mittelmäßigkeit und tiefer herab sicher nicht in Abrede
stellen, wenn man auch nur den Maßstab mcndelssohnschen Geschmacks an sie
legen wollte, der den Leitern der Concerte doch sicher zu Gebote steht; also aus


Recht zu antiquircnder früherer Paradestücke zur Langenweile jedes seiner ge¬
bildeten Kunstverständigen aus dem Notenschrank hervorzusuchen; 'wie ökonomische
Hausfrauen nicht gern sehen, w«?um liebes Gut verkommt, und mit liebens¬
würdiger Unverschämtheit Abgestandenes unter Frisches mengen.

Viel lieber einige Simphonien von Haydn mehr im nächsten Jahr und
dafür das Andante mit dem Paukenschlag weniger affectirt vorgetragen, als
es dieses Jahr geschah. Haydn hätte sicher ein Lächeln nicht unterdrücken
können, wenn er den grundcinfachen Gedanken seines Andante mit allen Tücken
des Piano und Crescendo hätte vortragen hören. Was gäbe ich drum, wenn
ich drei oder vier Ouvertüren dieses Winterhalbjahr nicht nöthig gehabt hätte
mit anhören zu müssen, dafür aber bei Beethovens Coriolanouverture, in den
mächtigen Fortestellen mehr Violintöne gehört hätte, als jenes unangenehme
Geräusch, welches entsteht, wenn der Geiger ein Forte erzwingen will, das
nicht in den Grenzen seines Instruments liegt. Von Mozarts Simphonien
erschienen auch nur zwei; eine dritte in dem Ertraconcert zur Mozartfeier mit
musterhafter Ausführung, so wie wir hier auch des Doppelconcertö für Violine
und Bratsche desselben Meisters gedenken wollen, theils wegen der Schönheit
des Stückes, theils wegen dessen vortrefflicher Ausführung. Dergleichen konnte,
nur in Leipzig gehört werden. Prüft man den Werth der Stücke, welche
im Laufe der Abonnementconcerte zur Aufführung kamen, um der Virtuosität
der Spieler, Geiger und Bläser ihr Recht zu verschaffen, so zählt man beinah
zwei Dutzend, von denen kaum ein Drittel musikalischen Werth besitzen, volle
zwei Drittel aber nie darauf Anspruch machen dürfen, daß man ihnen neben
Beethoven und Mozart auch nur ein halbes Ohr schenkt; ebensowenig wie
den der Sängerwegen zugestandnen rossinischen, bellinischen, donizettischen
Tiraden, mit denen jene Stücke in gleicher Linie stehen und zu deren Ver-
gleichung die Programms so reichliche Auswahl lieferten. Dreimal ver¬
nahm man auch Brocken jener extremen Geister, deren Musik der Gegenwart
durchaus unverständlich ist, denen man also doch sicher den größten Gefallen
erwiese, wenn man sie sammt ihren Leistungen der Zukunft anheimgäbe; aber
auch diese Erfahrungen sollten dem Publicum nicht erspart werden.. Ich habe
das Verhältniß genau berechnet: die Zahl der Meisterwerke, derer von
geringerem Werth und die völlig werthloser verhielt sich wie 4:3:2. Es
wäre doch wol möglich, die letztern allmälig ganz verschwinden zu lassen.
Schwieriger ist es, sich mit der zweiten Reihe in ein richtigeres Verhältniß zu
setzen. Die unter dieser Kategorie begriffenen Compositionen nämlich streifen
in ihrer einen Hälfte an die besten, in ihrer andern aber kann man ein all-
mäliges Sinken zur Mittelmäßigkeit und tiefer herab sicher nicht in Abrede
stellen, wenn man auch nur den Maßstab mcndelssohnschen Geschmacks an sie
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/198>, abgerufen am 27.06.2024.