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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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die Seele des Institutes war, dagegen hält, leicht einsehen, wie eigen¬
thümlich die classischen Werke unsrer großen Musiker, trotz der tüchtigen Weise
der Aufführungen, die man vom Gewaudhausconcert gewöhnt war, wie frisch,
wie neubelebt diese Werke jetzt hervortraten. Eine Menge bisher nur unvoll¬
kommen benutzter Vortragsmittel, deren treffliche Wirkung der scharfe Verstand
des Dirigenten genau zu berechnen wußte und vor deren Uebertreibung und
unziemlicher Anwendung sein durchgebildeter Geschmack ihn sicher stellten, traten
hervor und ein ungetheilter dauernder Enthusiasmus für die Gabe, wie für die
Anmuth des Gebens war das Resultat. Wer möchte nicht von Herzen wünschen,
dieses Vermächtniß Mendelssohns für immer erhalten zu wissen! Allein schon hier
machen wir auf eine Gefahr aufmerksam; die beste Absicht, der Art und Weise
des Meisters genug zu thun, hat gar nicht selten die Anwendung jener Mittel
so gesteigert, daß unbefangene Hörer sich über die Schärfe der musikalischen
Accentuation wundern mußten. Eine Verwendung der musikalischen Vortrags¬
mittel in dieser Weise grenzt an Manier. Wie der geschickte Vorleser dem ^
Werke des Dichters so viel von der eignen Persönlichkeit mittheilt, daß eine
originelle Belebung stattsinvct, so entzückte Mendelssohn uns durch die Ver¬
jüngung, welche die einzelnen Kunstwerke in seiner eignen Seele erfuhren. We¬
niger erinnert man sich einer zweiten Wirksamkeit des großen Künstlers, in welcher
wir ihn von jeher gern mit Lessing verglichen haben. Mendelssohn war ein ge-
schworner Feind des Zopfes und der Pedanterie und so weit hier sein Arm
reichte, räumte er schonungslos ans. Es wäre nicht schwer, aus der literari¬
schen Geschichte der Musik unsrer Tage eine große Anzahl sogenannter Lieblings¬
stücke des Publicums anzuführen, die vor Mendelssohn ihres Beifalls gewiß,
nach seinem Erscheinen ihren Rückzug in die innersten Räume musikalischer
Bibliotheken antreten mußten; die Tragweite aber auch einer solchen Persön¬
lichkeit sollte ihre Grenzen haben, es blieben noch immer Dünste und Nebel
genug übrig, die eine Reinigung der musikalischen Atmosphäre auch fernerhin
dringend empfehlen. Der ästhetische LibertiniSmus, der gar eine große Gemeinde
zählt, damit zusammenhängende Bedürfnisse, die der Notenhandel bereitwillig
pflegt und befördert, sind es, die uns noch heutigen Tages mit einer Masse
mephitischen Qualmes beschwerlich werden. Sonach darf sich niemand wundern,
wenn nach Mendelssohn noch viel.zu thun übrig geblieben ist, sicher wäre es
weniger gewesen, wenn er länger unter uns seine ruhmvolle Bahn hätte
wandeln sollen. Deutlich genug aber sollte ich meinen, hätte er gezeigt, welche
Idee er von eier Aufgabe des Instituts gehabt und daß er am wenigsten geglaubt
hat, die absolute Höhe erreicht zu haben. Er wollte es nicht nur zu einem
Muster technischer Ausführung, sondern vor allem zu einem Muster des Geschmacks
erheben; zur Trägerin reiner, unbefleckter Kuustfreiheit, zur Darstellerin jenes
Ideals, das wir als deutsches Geisteöeigenthum ansprechen dürfen. Zum Fest-


die Seele des Institutes war, dagegen hält, leicht einsehen, wie eigen¬
thümlich die classischen Werke unsrer großen Musiker, trotz der tüchtigen Weise
der Aufführungen, die man vom Gewaudhausconcert gewöhnt war, wie frisch,
wie neubelebt diese Werke jetzt hervortraten. Eine Menge bisher nur unvoll¬
kommen benutzter Vortragsmittel, deren treffliche Wirkung der scharfe Verstand
des Dirigenten genau zu berechnen wußte und vor deren Uebertreibung und
unziemlicher Anwendung sein durchgebildeter Geschmack ihn sicher stellten, traten
hervor und ein ungetheilter dauernder Enthusiasmus für die Gabe, wie für die
Anmuth des Gebens war das Resultat. Wer möchte nicht von Herzen wünschen,
dieses Vermächtniß Mendelssohns für immer erhalten zu wissen! Allein schon hier
machen wir auf eine Gefahr aufmerksam; die beste Absicht, der Art und Weise
des Meisters genug zu thun, hat gar nicht selten die Anwendung jener Mittel
so gesteigert, daß unbefangene Hörer sich über die Schärfe der musikalischen
Accentuation wundern mußten. Eine Verwendung der musikalischen Vortrags¬
mittel in dieser Weise grenzt an Manier. Wie der geschickte Vorleser dem ^
Werke des Dichters so viel von der eignen Persönlichkeit mittheilt, daß eine
originelle Belebung stattsinvct, so entzückte Mendelssohn uns durch die Ver¬
jüngung, welche die einzelnen Kunstwerke in seiner eignen Seele erfuhren. We¬
niger erinnert man sich einer zweiten Wirksamkeit des großen Künstlers, in welcher
wir ihn von jeher gern mit Lessing verglichen haben. Mendelssohn war ein ge-
schworner Feind des Zopfes und der Pedanterie und so weit hier sein Arm
reichte, räumte er schonungslos ans. Es wäre nicht schwer, aus der literari¬
schen Geschichte der Musik unsrer Tage eine große Anzahl sogenannter Lieblings¬
stücke des Publicums anzuführen, die vor Mendelssohn ihres Beifalls gewiß,
nach seinem Erscheinen ihren Rückzug in die innersten Räume musikalischer
Bibliotheken antreten mußten; die Tragweite aber auch einer solchen Persön¬
lichkeit sollte ihre Grenzen haben, es blieben noch immer Dünste und Nebel
genug übrig, die eine Reinigung der musikalischen Atmosphäre auch fernerhin
dringend empfehlen. Der ästhetische LibertiniSmus, der gar eine große Gemeinde
zählt, damit zusammenhängende Bedürfnisse, die der Notenhandel bereitwillig
pflegt und befördert, sind es, die uns noch heutigen Tages mit einer Masse
mephitischen Qualmes beschwerlich werden. Sonach darf sich niemand wundern,
wenn nach Mendelssohn noch viel.zu thun übrig geblieben ist, sicher wäre es
weniger gewesen, wenn er länger unter uns seine ruhmvolle Bahn hätte
wandeln sollen. Deutlich genug aber sollte ich meinen, hätte er gezeigt, welche
Idee er von eier Aufgabe des Instituts gehabt und daß er am wenigsten geglaubt
hat, die absolute Höhe erreicht zu haben. Er wollte es nicht nur zu einem
Muster technischer Ausführung, sondern vor allem zu einem Muster des Geschmacks
erheben; zur Trägerin reiner, unbefleckter Kuustfreiheit, zur Darstellerin jenes
Ideals, das wir als deutsches Geisteöeigenthum ansprechen dürfen. Zum Fest-


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[0196] die Seele des Institutes war, dagegen hält, leicht einsehen, wie eigen¬ thümlich die classischen Werke unsrer großen Musiker, trotz der tüchtigen Weise der Aufführungen, die man vom Gewaudhausconcert gewöhnt war, wie frisch, wie neubelebt diese Werke jetzt hervortraten. Eine Menge bisher nur unvoll¬ kommen benutzter Vortragsmittel, deren treffliche Wirkung der scharfe Verstand des Dirigenten genau zu berechnen wußte und vor deren Uebertreibung und unziemlicher Anwendung sein durchgebildeter Geschmack ihn sicher stellten, traten hervor und ein ungetheilter dauernder Enthusiasmus für die Gabe, wie für die Anmuth des Gebens war das Resultat. Wer möchte nicht von Herzen wünschen, dieses Vermächtniß Mendelssohns für immer erhalten zu wissen! Allein schon hier machen wir auf eine Gefahr aufmerksam; die beste Absicht, der Art und Weise des Meisters genug zu thun, hat gar nicht selten die Anwendung jener Mittel so gesteigert, daß unbefangene Hörer sich über die Schärfe der musikalischen Accentuation wundern mußten. Eine Verwendung der musikalischen Vortrags¬ mittel in dieser Weise grenzt an Manier. Wie der geschickte Vorleser dem ^ Werke des Dichters so viel von der eignen Persönlichkeit mittheilt, daß eine originelle Belebung stattsinvct, so entzückte Mendelssohn uns durch die Ver¬ jüngung, welche die einzelnen Kunstwerke in seiner eignen Seele erfuhren. We¬ niger erinnert man sich einer zweiten Wirksamkeit des großen Künstlers, in welcher wir ihn von jeher gern mit Lessing verglichen haben. Mendelssohn war ein ge- schworner Feind des Zopfes und der Pedanterie und so weit hier sein Arm reichte, räumte er schonungslos ans. Es wäre nicht schwer, aus der literari¬ schen Geschichte der Musik unsrer Tage eine große Anzahl sogenannter Lieblings¬ stücke des Publicums anzuführen, die vor Mendelssohn ihres Beifalls gewiß, nach seinem Erscheinen ihren Rückzug in die innersten Räume musikalischer Bibliotheken antreten mußten; die Tragweite aber auch einer solchen Persön¬ lichkeit sollte ihre Grenzen haben, es blieben noch immer Dünste und Nebel genug übrig, die eine Reinigung der musikalischen Atmosphäre auch fernerhin dringend empfehlen. Der ästhetische LibertiniSmus, der gar eine große Gemeinde zählt, damit zusammenhängende Bedürfnisse, die der Notenhandel bereitwillig pflegt und befördert, sind es, die uns noch heutigen Tages mit einer Masse mephitischen Qualmes beschwerlich werden. Sonach darf sich niemand wundern, wenn nach Mendelssohn noch viel.zu thun übrig geblieben ist, sicher wäre es weniger gewesen, wenn er länger unter uns seine ruhmvolle Bahn hätte wandeln sollen. Deutlich genug aber sollte ich meinen, hätte er gezeigt, welche Idee er von eier Aufgabe des Instituts gehabt und daß er am wenigsten geglaubt hat, die absolute Höhe erreicht zu haben. Er wollte es nicht nur zu einem Muster technischer Ausführung, sondern vor allem zu einem Muster des Geschmacks erheben; zur Trägerin reiner, unbefleckter Kuustfreiheit, zur Darstellerin jenes Ideals, das wir als deutsches Geisteöeigenthum ansprechen dürfen. Zum Fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/196>, abgerufen am 27.06.2024.