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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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ist, sich einen Augenblick darüber freuen sollte, daß der Verfasser der Reaction
und der Anarchie gleichmäßig entgegentritt, so wird sie im nächsten Augenblick
in der Person ihres Vertreters Cicero von zwei Seiten geohrfeigt. Leute, die
jedes Mal, wo man es mit der Kritik ernst nimmt, wo man im zweiten
Satz nicht widerruft, was man im ersten gesagt, über verbitterten Pessimismus
klagen, werden hier reichlich Gelegenheit finden, ihr Gemüth zu verletzen. Aber
der Verfasser hat pas Recht, schonungslos zu verfahren, weil auch die grellste
Farbe bei ihm die Festigkeit der Zeichnung nicht verwirrt, weil er mit zuver¬
lässiger Künstlerhand darstellt, wie in einem großen Ganzen Sinn und Ver¬
stand walten kann, obgleich daS meiste Einzelne Sinn-und geschmacklos aussieht.

Suchen wir uns nun zu versinnlichen, worin die Vorzüge der Darstellung
bestehen, so können wir freilich nur auf einzelnes hindeuten. Zunächst kann
der Verfasser darum gut erzählen, weil ihm das Material in seiner ganzen
- Fülle gegenwärtig ist. Wo er eine Farbe, einen Strich gebraucht, hat er ihn
augenblicklich bei der Hand, er darf ihn nicht erst mühsam suchen. Diese durch
ein eisernes Gedächtniß gestützte universelle Gelehrsamkeit macht es ihm zugleich
möglich, allen gelehrten Prunk zu vermeiden. Er wendet sich mit seiner Dar¬
stellung nicht an den Gelehrten, sondern an den gesunden Menschenverstand.
Es kommt dazu zweitens die allgemeine Bildung, die ihm für jedes einzelne
Factum die Analogie an die Hand gibt und ihm seine begriffliche Auffassung
erleichtert. Die einzelne Erscheinung imponirt ihm nicht, weil er das Gesetz der¬
selben kennt. Er besitzt ferner jenen entschlossenen Verstand, der schnell das
Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet, der also niemals vom Detail abhängig
wird, sondern das Detail zu seinen Zwecken benutzt; er besitzt das constructive
Talent, die divinatorische Kraft> aus der Kenntniß des Einzelnen das Bild
eines concreten lebendigen Ganzen zu entwerfen. Er hat in seiner eignen
Seele jene groß angelegte Leidenschaft, ohne die man niemals ein echter Ge¬
schichtschreiber wird, denn mit dem Verstand allein wird man der Gegenstände
nicht Herr. Die äußere Bewegung, die man darstellen will, muß im eignen
Innern lebhaft und stark nachzittern, sonst wird man sie nicht verstehen. Er
hat einen hohen sittlichen Ernst, einen Haß gegen alles Gemeine und Niedrige,
der ihm die richtigen Verhältnisse vermittelt. Er gebietet endlich so weit über
die Sprache, daß sein Stil nur als der adäquate Ausdruck des Gegenstandes
erscheint. Die Lebendigkeit des Stils wird freilich nur dadurch möglich, daß
er niemals auf den Stil selbst achtet, sondern sich nur bemüht, scharf pointirt
die Hauptsache zu sagen. Er verliert sich nicht etwa, wie die Schule von
Schlosser und Gervinus, in Analogien. Die Analogie ist, ihm nur dazu da,
um den Begriff und das Bild festzustellen, zmveilen in einer kurzen, witzigen,
epigrammatischen Wendung; aber sein Witz ruht stets in den Gegenständen, er
macht ihn nicht, er ruft ihn nur hervor.


ist, sich einen Augenblick darüber freuen sollte, daß der Verfasser der Reaction
und der Anarchie gleichmäßig entgegentritt, so wird sie im nächsten Augenblick
in der Person ihres Vertreters Cicero von zwei Seiten geohrfeigt. Leute, die
jedes Mal, wo man es mit der Kritik ernst nimmt, wo man im zweiten
Satz nicht widerruft, was man im ersten gesagt, über verbitterten Pessimismus
klagen, werden hier reichlich Gelegenheit finden, ihr Gemüth zu verletzen. Aber
der Verfasser hat pas Recht, schonungslos zu verfahren, weil auch die grellste
Farbe bei ihm die Festigkeit der Zeichnung nicht verwirrt, weil er mit zuver¬
lässiger Künstlerhand darstellt, wie in einem großen Ganzen Sinn und Ver¬
stand walten kann, obgleich daS meiste Einzelne Sinn-und geschmacklos aussieht.

Suchen wir uns nun zu versinnlichen, worin die Vorzüge der Darstellung
bestehen, so können wir freilich nur auf einzelnes hindeuten. Zunächst kann
der Verfasser darum gut erzählen, weil ihm das Material in seiner ganzen
- Fülle gegenwärtig ist. Wo er eine Farbe, einen Strich gebraucht, hat er ihn
augenblicklich bei der Hand, er darf ihn nicht erst mühsam suchen. Diese durch
ein eisernes Gedächtniß gestützte universelle Gelehrsamkeit macht es ihm zugleich
möglich, allen gelehrten Prunk zu vermeiden. Er wendet sich mit seiner Dar¬
stellung nicht an den Gelehrten, sondern an den gesunden Menschenverstand.
Es kommt dazu zweitens die allgemeine Bildung, die ihm für jedes einzelne
Factum die Analogie an die Hand gibt und ihm seine begriffliche Auffassung
erleichtert. Die einzelne Erscheinung imponirt ihm nicht, weil er das Gesetz der¬
selben kennt. Er besitzt ferner jenen entschlossenen Verstand, der schnell das
Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet, der also niemals vom Detail abhängig
wird, sondern das Detail zu seinen Zwecken benutzt; er besitzt das constructive
Talent, die divinatorische Kraft> aus der Kenntniß des Einzelnen das Bild
eines concreten lebendigen Ganzen zu entwerfen. Er hat in seiner eignen
Seele jene groß angelegte Leidenschaft, ohne die man niemals ein echter Ge¬
schichtschreiber wird, denn mit dem Verstand allein wird man der Gegenstände
nicht Herr. Die äußere Bewegung, die man darstellen will, muß im eignen
Innern lebhaft und stark nachzittern, sonst wird man sie nicht verstehen. Er
hat einen hohen sittlichen Ernst, einen Haß gegen alles Gemeine und Niedrige,
der ihm die richtigen Verhältnisse vermittelt. Er gebietet endlich so weit über
die Sprache, daß sein Stil nur als der adäquate Ausdruck des Gegenstandes
erscheint. Die Lebendigkeit des Stils wird freilich nur dadurch möglich, daß
er niemals auf den Stil selbst achtet, sondern sich nur bemüht, scharf pointirt
die Hauptsache zu sagen. Er verliert sich nicht etwa, wie die Schule von
Schlosser und Gervinus, in Analogien. Die Analogie ist, ihm nur dazu da,
um den Begriff und das Bild festzustellen, zmveilen in einer kurzen, witzigen,
epigrammatischen Wendung; aber sein Witz ruht stets in den Gegenständen, er
macht ihn nicht, er ruft ihn nur hervor.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/13>, abgerufen am 21.06.2024.