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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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deutschen Unternehmungen der Männergcsang in der Schweiz aus- DaS
größte Verdienst hat in dieser Beziehung Nägeli, der.es als seine Lebensauf¬
gabe betrachtete, die musikalische Kunst im Volke auszubreiten und durch sie
die Bildung und Erziehung des Volks zu fördern. "Erst da, sagt er in sei¬
nem Werk: Gesangsbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, 1810, be¬
ginnt das Zeitalter der Musik, wo nicht blos Repräsentationen die höhere
Kunst ausüben, wo die höhere Kunst zum Gemeingut des. Volks, der Nation
geworden. Das wird nur möglich durch Beförderung des Chorgesanges. Dieser
ist schon in bloßer Kunstrücksicht der Brennpunkt "des musikalischen Wirkens;
humanistisch betrachtet ist er über alle Vergleichung mehr als dies. Nehmt
Scharen von Menschen, versucht es, sie in humane Wechselwirkung zu brin¬
gen, wo jeder Einzelne seine Persönlichkeit, freithätig ausübt, wo er zugleich
von allen Uebrigen gleichartige Eindrücke empfängt, wo er sich seiner mensch¬
lichen Selbstständigkeit und Mitständigkeit aufs anschaulichste und vielfachste
bewußt wird, wo er Aufklärung empfängt und verbreitet, wo er Liebe aus¬
strömt und einhaucht -- habt Ihr etwas Anderes als den Chorgesang?"

Diese beiden Richtungen bildeten sich unabhängig voneinander aus, bis
sie bei ihrer immer weitem Ausbreitung einander begegneten Die Gründung
eines organistrten Bundes der einzelnen kleinern Gesellschaften, des appenzell-
schen Männerchors, fällt in das Jahr 182L. Eine gemeinsame Liedersammlung
wurde unternommen; die Sängersahne mit Leier und Schwert, umschlungen
von einem Eichenkranz, erschien 1827 zum ersten Mal. Sparer ward auch
eine gemeinsame tragbare Festhütte erworben, die von Festort zu Festort wan¬
derte. Das stolze eidgenössische Gefühl bildete den Leitton dieser Feste.-- Die
Einwirkung der Schweiz ist bei.der Belebung der schwäbischen Liederkreise un¬
verkennbar; doch gaben hier die Lieder der schwäbischen Dichterschule den Stoff.
Das erste Fest des deutschen Liederkranzes fand 18Si statt. Gustav Schwab,
Wilhelm Hauff und andere Dichter nahmen Theil daran; Uhland ward Eh¬
renmitglied. Schillers Todestag wurde der Mittelpunkt der Sängerfeste. Ei¬
nen glücklichen Einfluß hatten die Compositionen von Silcher. Die einzelnen
schwäbischen Liederkränze vereinigten sich schon 1827 zu einem gemeinsamen
Fest. In dem übrigen Süddeutschland so wie in Thüringen breitete sich die
Sitte immer weiter aus.

Die schwäbischen Liederkränze hatten den Vortheil, schon eine ansehnliche
Zahl von Werken für den Männerchor vor sich liegen zu haben. An Nägeli
schloß sich Lindpaintner, Kocher, Frech, Silcher u. s. w. Die norddeutschen
Vereine bildeten sich an Zelter,, Methfcssel, Berger, Klein, Schneider u. f. w.
Den Ausschlag gab Karl Maria von Weber, dessen classische Compositionen
der Körnerschen Lieder ganz Deutschland eleklnsirten. An ihn schlossen sich
Spohr und Marschner, dann der Oestreicher Franz Schubert, der Schwabe


deutschen Unternehmungen der Männergcsang in der Schweiz aus- DaS
größte Verdienst hat in dieser Beziehung Nägeli, der.es als seine Lebensauf¬
gabe betrachtete, die musikalische Kunst im Volke auszubreiten und durch sie
die Bildung und Erziehung des Volks zu fördern. „Erst da, sagt er in sei¬
nem Werk: Gesangsbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, 1810, be¬
ginnt das Zeitalter der Musik, wo nicht blos Repräsentationen die höhere
Kunst ausüben, wo die höhere Kunst zum Gemeingut des. Volks, der Nation
geworden. Das wird nur möglich durch Beförderung des Chorgesanges. Dieser
ist schon in bloßer Kunstrücksicht der Brennpunkt «des musikalischen Wirkens;
humanistisch betrachtet ist er über alle Vergleichung mehr als dies. Nehmt
Scharen von Menschen, versucht es, sie in humane Wechselwirkung zu brin¬
gen, wo jeder Einzelne seine Persönlichkeit, freithätig ausübt, wo er zugleich
von allen Uebrigen gleichartige Eindrücke empfängt, wo er sich seiner mensch¬
lichen Selbstständigkeit und Mitständigkeit aufs anschaulichste und vielfachste
bewußt wird, wo er Aufklärung empfängt und verbreitet, wo er Liebe aus¬
strömt und einhaucht — habt Ihr etwas Anderes als den Chorgesang?"

Diese beiden Richtungen bildeten sich unabhängig voneinander aus, bis
sie bei ihrer immer weitem Ausbreitung einander begegneten Die Gründung
eines organistrten Bundes der einzelnen kleinern Gesellschaften, des appenzell-
schen Männerchors, fällt in das Jahr 182L. Eine gemeinsame Liedersammlung
wurde unternommen; die Sängersahne mit Leier und Schwert, umschlungen
von einem Eichenkranz, erschien 1827 zum ersten Mal. Sparer ward auch
eine gemeinsame tragbare Festhütte erworben, die von Festort zu Festort wan¬
derte. Das stolze eidgenössische Gefühl bildete den Leitton dieser Feste.— Die
Einwirkung der Schweiz ist bei.der Belebung der schwäbischen Liederkreise un¬
verkennbar; doch gaben hier die Lieder der schwäbischen Dichterschule den Stoff.
Das erste Fest des deutschen Liederkranzes fand 18Si statt. Gustav Schwab,
Wilhelm Hauff und andere Dichter nahmen Theil daran; Uhland ward Eh¬
renmitglied. Schillers Todestag wurde der Mittelpunkt der Sängerfeste. Ei¬
nen glücklichen Einfluß hatten die Compositionen von Silcher. Die einzelnen
schwäbischen Liederkränze vereinigten sich schon 1827 zu einem gemeinsamen
Fest. In dem übrigen Süddeutschland so wie in Thüringen breitete sich die
Sitte immer weiter aus.

Die schwäbischen Liederkränze hatten den Vortheil, schon eine ansehnliche
Zahl von Werken für den Männerchor vor sich liegen zu haben. An Nägeli
schloß sich Lindpaintner, Kocher, Frech, Silcher u. s. w. Die norddeutschen
Vereine bildeten sich an Zelter,, Methfcssel, Berger, Klein, Schneider u. f. w.
Den Ausschlag gab Karl Maria von Weber, dessen classische Compositionen
der Körnerschen Lieder ganz Deutschland eleklnsirten. An ihn schlossen sich
Spohr und Marschner, dann der Oestreicher Franz Schubert, der Schwabe


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[0517] deutschen Unternehmungen der Männergcsang in der Schweiz aus- DaS größte Verdienst hat in dieser Beziehung Nägeli, der.es als seine Lebensauf¬ gabe betrachtete, die musikalische Kunst im Volke auszubreiten und durch sie die Bildung und Erziehung des Volks zu fördern. „Erst da, sagt er in sei¬ nem Werk: Gesangsbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, 1810, be¬ ginnt das Zeitalter der Musik, wo nicht blos Repräsentationen die höhere Kunst ausüben, wo die höhere Kunst zum Gemeingut des. Volks, der Nation geworden. Das wird nur möglich durch Beförderung des Chorgesanges. Dieser ist schon in bloßer Kunstrücksicht der Brennpunkt «des musikalischen Wirkens; humanistisch betrachtet ist er über alle Vergleichung mehr als dies. Nehmt Scharen von Menschen, versucht es, sie in humane Wechselwirkung zu brin¬ gen, wo jeder Einzelne seine Persönlichkeit, freithätig ausübt, wo er zugleich von allen Uebrigen gleichartige Eindrücke empfängt, wo er sich seiner mensch¬ lichen Selbstständigkeit und Mitständigkeit aufs anschaulichste und vielfachste bewußt wird, wo er Aufklärung empfängt und verbreitet, wo er Liebe aus¬ strömt und einhaucht — habt Ihr etwas Anderes als den Chorgesang?" Diese beiden Richtungen bildeten sich unabhängig voneinander aus, bis sie bei ihrer immer weitem Ausbreitung einander begegneten Die Gründung eines organistrten Bundes der einzelnen kleinern Gesellschaften, des appenzell- schen Männerchors, fällt in das Jahr 182L. Eine gemeinsame Liedersammlung wurde unternommen; die Sängersahne mit Leier und Schwert, umschlungen von einem Eichenkranz, erschien 1827 zum ersten Mal. Sparer ward auch eine gemeinsame tragbare Festhütte erworben, die von Festort zu Festort wan¬ derte. Das stolze eidgenössische Gefühl bildete den Leitton dieser Feste.— Die Einwirkung der Schweiz ist bei.der Belebung der schwäbischen Liederkreise un¬ verkennbar; doch gaben hier die Lieder der schwäbischen Dichterschule den Stoff. Das erste Fest des deutschen Liederkranzes fand 18Si statt. Gustav Schwab, Wilhelm Hauff und andere Dichter nahmen Theil daran; Uhland ward Eh¬ renmitglied. Schillers Todestag wurde der Mittelpunkt der Sängerfeste. Ei¬ nen glücklichen Einfluß hatten die Compositionen von Silcher. Die einzelnen schwäbischen Liederkränze vereinigten sich schon 1827 zu einem gemeinsamen Fest. In dem übrigen Süddeutschland so wie in Thüringen breitete sich die Sitte immer weiter aus. Die schwäbischen Liederkränze hatten den Vortheil, schon eine ansehnliche Zahl von Werken für den Männerchor vor sich liegen zu haben. An Nägeli schloß sich Lindpaintner, Kocher, Frech, Silcher u. s. w. Die norddeutschen Vereine bildeten sich an Zelter,, Methfcssel, Berger, Klein, Schneider u. f. w. Den Ausschlag gab Karl Maria von Weber, dessen classische Compositionen der Körnerschen Lieder ganz Deutschland eleklnsirten. An ihn schlossen sich Spohr und Marschner, dann der Oestreicher Franz Schubert, der Schwabe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/517>, abgerufen am 23.07.2024.