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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Seit 18i9 hat er hinreichend Zeit gehabt, die von ihm früher vertretenen An¬
sichten einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen, und wir schlugen das Buch
mit einer gewissen Spannung auf, aber es hat uns sehr wenig befriedigt. Der
burschikose Ton der äußersten Linken von 1848 ist geblieben, derselbe Ueber¬
muth, der doch nicht aus einem festen Glauben hervorgeht, dasselbe geistreiche,
dilettantische Herumtasten von einem Gesichtspunkt zum andern, dasselbe Ueber¬
gewicht der Stimmung über die Vernunft. Simon macht den Eindruck eines
liebenswürdigen Menschen von großem Interesse für Kunst und Literatur, der
mit Kindern gemüthlich spielt, gegen Frauen galant ist, mit jungen Männern
scherzt und tobt, mit ältern disputirt u. s. w., aber er macht nicht den Ein¬
druck eines Mannes, der das Recht, hätte, in ernsthaften Dingen mitzureden.
Er verbittet sich in der Vorrede jeden Ausdruck des Mitleids; aber wir können
doch nichts Anderes für ihn empfinden. In gewöhnlichen Verhältnissen wäre
er wahrscheinlich ein tüchtiges und angenehmes Mitglied der Gesellschaft ge¬
worden; credat sich diese Stellung durch ein leichtsinniges Spiel verscherzt und
eine neue noch nicht wiederfinden können. Das ist zu bedauern, aber eS ist
kein tragisches Geschick. Auch der Humor, mit dem er seine Schicksale vorträgt,
hat etwas Unbefriedigendes: er geht nicht aus einem frischen Herzen hervor,
sondern aus einer Natur, die halb mit sich zerfallen ist und doch nicht die
Kraft hat, selbstständig eine neue Wendung zu nehmen. Man höre den Schluß.
"Mein Vaterland hat mich ausgestoßen; das Ausland kann mich nicht brauchen,
weder im Barreau noch in der Aula; mit der Schriftstellerei geht eS nicht.
Weiß ich doch nicht einmal, ob ich für diese Blätter einen Verleger finden
werde! -- Was ich nun anfange? -- Ich werde Commis." -- Liegt nicht in
dieser Wendung etwas unangenehm Theatralisches? Ist nicht der Stand eines
Kaufmanns ebenso ehrenvoll, als der eines Advocaten? Der Heroismus dieses
Entschlusses ist in der That nicht so ungeheuer. Einen äußerst widerlichen
Eindruck macht die Darstellung seiner Familienverhältnisse, die doch gar nicht
nöthig war. Wir wollen sie auch hier nicht wiedergeben; wer sich dafür inter-
essirt, möge im zweiten Band S. 228--233 nachschlagen. Ernsthafter gemeint
ist die Klage über die Hilflosigkeit, in welche bei einem außerordentlichen Fall
jeder versetzt ist, der sich nur auf eine büreaukratische Vorbildung stützt. Diese
Einseitigkeit der Bildung gehört in der That zu den schlimmsten Krankheiten
unsrer Zeit und wird noch einmal bei einer ernsthaften Krise die schlimmsten
Folgen nach sich ziehen, denn das gebildete Proletariat ist noch gefährlicher,
als das ungebildete.

Lassen wir die Persönlichkeit ganz bei Seite und halten uns lediglich an
die politischen Principien. -- Simon ist kein Gläubiger; keiner unter den ver¬
schiedenen Artikeln, welche die Demokratie nacheinander auf ihr Panier ge¬
schrieben, ist ihm absolute Wahrheit. So sagt er Bd. 1, S. -19: "Gib einem


Seit 18i9 hat er hinreichend Zeit gehabt, die von ihm früher vertretenen An¬
sichten einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen, und wir schlugen das Buch
mit einer gewissen Spannung auf, aber es hat uns sehr wenig befriedigt. Der
burschikose Ton der äußersten Linken von 1848 ist geblieben, derselbe Ueber¬
muth, der doch nicht aus einem festen Glauben hervorgeht, dasselbe geistreiche,
dilettantische Herumtasten von einem Gesichtspunkt zum andern, dasselbe Ueber¬
gewicht der Stimmung über die Vernunft. Simon macht den Eindruck eines
liebenswürdigen Menschen von großem Interesse für Kunst und Literatur, der
mit Kindern gemüthlich spielt, gegen Frauen galant ist, mit jungen Männern
scherzt und tobt, mit ältern disputirt u. s. w., aber er macht nicht den Ein¬
druck eines Mannes, der das Recht, hätte, in ernsthaften Dingen mitzureden.
Er verbittet sich in der Vorrede jeden Ausdruck des Mitleids; aber wir können
doch nichts Anderes für ihn empfinden. In gewöhnlichen Verhältnissen wäre
er wahrscheinlich ein tüchtiges und angenehmes Mitglied der Gesellschaft ge¬
worden; credat sich diese Stellung durch ein leichtsinniges Spiel verscherzt und
eine neue noch nicht wiederfinden können. Das ist zu bedauern, aber eS ist
kein tragisches Geschick. Auch der Humor, mit dem er seine Schicksale vorträgt,
hat etwas Unbefriedigendes: er geht nicht aus einem frischen Herzen hervor,
sondern aus einer Natur, die halb mit sich zerfallen ist und doch nicht die
Kraft hat, selbstständig eine neue Wendung zu nehmen. Man höre den Schluß.
„Mein Vaterland hat mich ausgestoßen; das Ausland kann mich nicht brauchen,
weder im Barreau noch in der Aula; mit der Schriftstellerei geht eS nicht.
Weiß ich doch nicht einmal, ob ich für diese Blätter einen Verleger finden
werde! — Was ich nun anfange? — Ich werde Commis." — Liegt nicht in
dieser Wendung etwas unangenehm Theatralisches? Ist nicht der Stand eines
Kaufmanns ebenso ehrenvoll, als der eines Advocaten? Der Heroismus dieses
Entschlusses ist in der That nicht so ungeheuer. Einen äußerst widerlichen
Eindruck macht die Darstellung seiner Familienverhältnisse, die doch gar nicht
nöthig war. Wir wollen sie auch hier nicht wiedergeben; wer sich dafür inter-
essirt, möge im zweiten Band S. 228—233 nachschlagen. Ernsthafter gemeint
ist die Klage über die Hilflosigkeit, in welche bei einem außerordentlichen Fall
jeder versetzt ist, der sich nur auf eine büreaukratische Vorbildung stützt. Diese
Einseitigkeit der Bildung gehört in der That zu den schlimmsten Krankheiten
unsrer Zeit und wird noch einmal bei einer ernsthaften Krise die schlimmsten
Folgen nach sich ziehen, denn das gebildete Proletariat ist noch gefährlicher,
als das ungebildete.

Lassen wir die Persönlichkeit ganz bei Seite und halten uns lediglich an
die politischen Principien. — Simon ist kein Gläubiger; keiner unter den ver¬
schiedenen Artikeln, welche die Demokratie nacheinander auf ihr Panier ge¬
schrieben, ist ihm absolute Wahrheit. So sagt er Bd. 1, S. -19: „Gib einem


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[0494] Seit 18i9 hat er hinreichend Zeit gehabt, die von ihm früher vertretenen An¬ sichten einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen, und wir schlugen das Buch mit einer gewissen Spannung auf, aber es hat uns sehr wenig befriedigt. Der burschikose Ton der äußersten Linken von 1848 ist geblieben, derselbe Ueber¬ muth, der doch nicht aus einem festen Glauben hervorgeht, dasselbe geistreiche, dilettantische Herumtasten von einem Gesichtspunkt zum andern, dasselbe Ueber¬ gewicht der Stimmung über die Vernunft. Simon macht den Eindruck eines liebenswürdigen Menschen von großem Interesse für Kunst und Literatur, der mit Kindern gemüthlich spielt, gegen Frauen galant ist, mit jungen Männern scherzt und tobt, mit ältern disputirt u. s. w., aber er macht nicht den Ein¬ druck eines Mannes, der das Recht, hätte, in ernsthaften Dingen mitzureden. Er verbittet sich in der Vorrede jeden Ausdruck des Mitleids; aber wir können doch nichts Anderes für ihn empfinden. In gewöhnlichen Verhältnissen wäre er wahrscheinlich ein tüchtiges und angenehmes Mitglied der Gesellschaft ge¬ worden; credat sich diese Stellung durch ein leichtsinniges Spiel verscherzt und eine neue noch nicht wiederfinden können. Das ist zu bedauern, aber eS ist kein tragisches Geschick. Auch der Humor, mit dem er seine Schicksale vorträgt, hat etwas Unbefriedigendes: er geht nicht aus einem frischen Herzen hervor, sondern aus einer Natur, die halb mit sich zerfallen ist und doch nicht die Kraft hat, selbstständig eine neue Wendung zu nehmen. Man höre den Schluß. „Mein Vaterland hat mich ausgestoßen; das Ausland kann mich nicht brauchen, weder im Barreau noch in der Aula; mit der Schriftstellerei geht eS nicht. Weiß ich doch nicht einmal, ob ich für diese Blätter einen Verleger finden werde! — Was ich nun anfange? — Ich werde Commis." — Liegt nicht in dieser Wendung etwas unangenehm Theatralisches? Ist nicht der Stand eines Kaufmanns ebenso ehrenvoll, als der eines Advocaten? Der Heroismus dieses Entschlusses ist in der That nicht so ungeheuer. Einen äußerst widerlichen Eindruck macht die Darstellung seiner Familienverhältnisse, die doch gar nicht nöthig war. Wir wollen sie auch hier nicht wiedergeben; wer sich dafür inter- essirt, möge im zweiten Band S. 228—233 nachschlagen. Ernsthafter gemeint ist die Klage über die Hilflosigkeit, in welche bei einem außerordentlichen Fall jeder versetzt ist, der sich nur auf eine büreaukratische Vorbildung stützt. Diese Einseitigkeit der Bildung gehört in der That zu den schlimmsten Krankheiten unsrer Zeit und wird noch einmal bei einer ernsthaften Krise die schlimmsten Folgen nach sich ziehen, denn das gebildete Proletariat ist noch gefährlicher, als das ungebildete. Lassen wir die Persönlichkeit ganz bei Seite und halten uns lediglich an die politischen Principien. — Simon ist kein Gläubiger; keiner unter den ver¬ schiedenen Artikeln, welche die Demokratie nacheinander auf ihr Panier ge¬ schrieben, ist ihm absolute Wahrheit. So sagt er Bd. 1, S. -19: „Gib einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/494>, abgerufen am 23.07.2024.