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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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fessoren. Selbst in der Darstellung des homerischen Zeitalters, dessen staatliche
Verhältnisse noch embryonisch sind, scheint uns Schömann (obwol dieser Ab¬
schnitt seines Buchs sehr gut ist) Grote nicht zu erreichen. An Genauigkeit der
Detailforschung haben wir nicht bemerkt, daß der erste den letztern überträfe,
in Zusammenfassung der Massen, perspektivischer Anordnung und klarer An¬
schaulichkeit der socialen und sittlichen Zustände müssen wir Grote den Vorzug
geben. Wir wollen hier eine Darstellung des homerischen Zeitalters geben, wo¬
bei wir die Arbeiten beider Gelehrten benutzen.

Die homerischen Gedichte, deren Entstehung ins neunte Jahrhundert vor
Christus fallen mag (Herodot sagt, Homer sei i-00 Jahre älter, als er selbst), schil¬
dern uns die Sitten jener Zeit mit unwillkürlicher Treue und Genauigkeit, so
fabelhaft auch die Ereignisse sind, die sie behandeln. Inwiefern die Zustände der
homerischen Zeit von denen der Heroenzeit verschieden sind, die nach der wieder¬
holten Aussage des Dichters einer fernern Vergangenheit angehört, das können
wir nur ausnahmsweise bestimmen: im Allgemeinen dürfen wir annehmen, daß die
Dichter ihre eigne Zeit vor Augen haben, also daß wir eine Schilderung Grie¬
chenlands im neunten Jahrhundert lesen. Wie jung war die Cultur des Westens
mit der des Orients verglichen! Schon viele Jahrhunderte vor Homer waren am
Nil und Euphrat Riesenwerke geschaffen worden, die wir noch anstaunen, prang¬
ten die Wände prachtvoller Paläste mit Skulpturen und Bildern, zeichneten
die Weisen ihre Beobachtungen der Himmelserscheinungen aus, wurde die
Fruchtbarkeit des Bodens durch kolossale Wasserbauten gesichert und erhöht.
Jene bis in die graueste Urzeit des Menschengeschlechts heraufreichende Cultur
des Ostens war schon in ihrem Greisenalter, als Hellas noch in der Kindheit
war. Doch ist auch die Cultur Griechenlands viel älter, als die der homerischen
Zeit. Unterirdische Kanäle zur Entwässerung des Landes (besonders in Böo-
tien) und zahlreiche Ueberreste cyklopischer Bauten gehören einer vorhomerischen
Periode an und während Griechenland im neunzehnten Jahrhundert nur wenige
Meilen Chaussee besitzt, machten die homerischen Helden ihre Reisen zu Wagen
da, wo jetzt nur Saumrosse schreiten. In der Urzeit fanden die Ansiedlungen
auf natürlich festen Höhen und sern von der Küste statt, um Leben und Eigen¬
thum vor plötzlichen Ueberfällen zu schützen: mit dem Fortschritt der Civilisation
zogen sie sich in die Ebene hinab und jene ersten Ringe auf den Bergen wur¬
den nun die Akropolen der neuen Städte, wie bei Athen, Argos und Theben.
Die homerische Zeit kennt schon diese vorgerückter" Zustände. Ihre ummauer¬
ten Städte in den Ebenen zeigen einen höhern Grad von Civilisation, als
noch in Thucydides Zeit die Aetoler und ozolischen Lokrer kannten.

In den Staaten des homerischen Griechenlands finden wir allgemein die
monarchische Regierungsform. Die Königswürde war erblich, die Verdrängung
des rechtmäßigen Thronerben gilt als ein bedenklicher Eingriff in die Ort-


fessoren. Selbst in der Darstellung des homerischen Zeitalters, dessen staatliche
Verhältnisse noch embryonisch sind, scheint uns Schömann (obwol dieser Ab¬
schnitt seines Buchs sehr gut ist) Grote nicht zu erreichen. An Genauigkeit der
Detailforschung haben wir nicht bemerkt, daß der erste den letztern überträfe,
in Zusammenfassung der Massen, perspektivischer Anordnung und klarer An¬
schaulichkeit der socialen und sittlichen Zustände müssen wir Grote den Vorzug
geben. Wir wollen hier eine Darstellung des homerischen Zeitalters geben, wo¬
bei wir die Arbeiten beider Gelehrten benutzen.

Die homerischen Gedichte, deren Entstehung ins neunte Jahrhundert vor
Christus fallen mag (Herodot sagt, Homer sei i-00 Jahre älter, als er selbst), schil¬
dern uns die Sitten jener Zeit mit unwillkürlicher Treue und Genauigkeit, so
fabelhaft auch die Ereignisse sind, die sie behandeln. Inwiefern die Zustände der
homerischen Zeit von denen der Heroenzeit verschieden sind, die nach der wieder¬
holten Aussage des Dichters einer fernern Vergangenheit angehört, das können
wir nur ausnahmsweise bestimmen: im Allgemeinen dürfen wir annehmen, daß die
Dichter ihre eigne Zeit vor Augen haben, also daß wir eine Schilderung Grie¬
chenlands im neunten Jahrhundert lesen. Wie jung war die Cultur des Westens
mit der des Orients verglichen! Schon viele Jahrhunderte vor Homer waren am
Nil und Euphrat Riesenwerke geschaffen worden, die wir noch anstaunen, prang¬
ten die Wände prachtvoller Paläste mit Skulpturen und Bildern, zeichneten
die Weisen ihre Beobachtungen der Himmelserscheinungen aus, wurde die
Fruchtbarkeit des Bodens durch kolossale Wasserbauten gesichert und erhöht.
Jene bis in die graueste Urzeit des Menschengeschlechts heraufreichende Cultur
des Ostens war schon in ihrem Greisenalter, als Hellas noch in der Kindheit
war. Doch ist auch die Cultur Griechenlands viel älter, als die der homerischen
Zeit. Unterirdische Kanäle zur Entwässerung des Landes (besonders in Böo-
tien) und zahlreiche Ueberreste cyklopischer Bauten gehören einer vorhomerischen
Periode an und während Griechenland im neunzehnten Jahrhundert nur wenige
Meilen Chaussee besitzt, machten die homerischen Helden ihre Reisen zu Wagen
da, wo jetzt nur Saumrosse schreiten. In der Urzeit fanden die Ansiedlungen
auf natürlich festen Höhen und sern von der Küste statt, um Leben und Eigen¬
thum vor plötzlichen Ueberfällen zu schützen: mit dem Fortschritt der Civilisation
zogen sie sich in die Ebene hinab und jene ersten Ringe auf den Bergen wur¬
den nun die Akropolen der neuen Städte, wie bei Athen, Argos und Theben.
Die homerische Zeit kennt schon diese vorgerückter» Zustände. Ihre ummauer¬
ten Städte in den Ebenen zeigen einen höhern Grad von Civilisation, als
noch in Thucydides Zeit die Aetoler und ozolischen Lokrer kannten.

In den Staaten des homerischen Griechenlands finden wir allgemein die
monarchische Regierungsform. Die Königswürde war erblich, die Verdrängung
des rechtmäßigen Thronerben gilt als ein bedenklicher Eingriff in die Ort-


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[0330] fessoren. Selbst in der Darstellung des homerischen Zeitalters, dessen staatliche Verhältnisse noch embryonisch sind, scheint uns Schömann (obwol dieser Ab¬ schnitt seines Buchs sehr gut ist) Grote nicht zu erreichen. An Genauigkeit der Detailforschung haben wir nicht bemerkt, daß der erste den letztern überträfe, in Zusammenfassung der Massen, perspektivischer Anordnung und klarer An¬ schaulichkeit der socialen und sittlichen Zustände müssen wir Grote den Vorzug geben. Wir wollen hier eine Darstellung des homerischen Zeitalters geben, wo¬ bei wir die Arbeiten beider Gelehrten benutzen. Die homerischen Gedichte, deren Entstehung ins neunte Jahrhundert vor Christus fallen mag (Herodot sagt, Homer sei i-00 Jahre älter, als er selbst), schil¬ dern uns die Sitten jener Zeit mit unwillkürlicher Treue und Genauigkeit, so fabelhaft auch die Ereignisse sind, die sie behandeln. Inwiefern die Zustände der homerischen Zeit von denen der Heroenzeit verschieden sind, die nach der wieder¬ holten Aussage des Dichters einer fernern Vergangenheit angehört, das können wir nur ausnahmsweise bestimmen: im Allgemeinen dürfen wir annehmen, daß die Dichter ihre eigne Zeit vor Augen haben, also daß wir eine Schilderung Grie¬ chenlands im neunten Jahrhundert lesen. Wie jung war die Cultur des Westens mit der des Orients verglichen! Schon viele Jahrhunderte vor Homer waren am Nil und Euphrat Riesenwerke geschaffen worden, die wir noch anstaunen, prang¬ ten die Wände prachtvoller Paläste mit Skulpturen und Bildern, zeichneten die Weisen ihre Beobachtungen der Himmelserscheinungen aus, wurde die Fruchtbarkeit des Bodens durch kolossale Wasserbauten gesichert und erhöht. Jene bis in die graueste Urzeit des Menschengeschlechts heraufreichende Cultur des Ostens war schon in ihrem Greisenalter, als Hellas noch in der Kindheit war. Doch ist auch die Cultur Griechenlands viel älter, als die der homerischen Zeit. Unterirdische Kanäle zur Entwässerung des Landes (besonders in Böo- tien) und zahlreiche Ueberreste cyklopischer Bauten gehören einer vorhomerischen Periode an und während Griechenland im neunzehnten Jahrhundert nur wenige Meilen Chaussee besitzt, machten die homerischen Helden ihre Reisen zu Wagen da, wo jetzt nur Saumrosse schreiten. In der Urzeit fanden die Ansiedlungen auf natürlich festen Höhen und sern von der Küste statt, um Leben und Eigen¬ thum vor plötzlichen Ueberfällen zu schützen: mit dem Fortschritt der Civilisation zogen sie sich in die Ebene hinab und jene ersten Ringe auf den Bergen wur¬ den nun die Akropolen der neuen Städte, wie bei Athen, Argos und Theben. Die homerische Zeit kennt schon diese vorgerückter» Zustände. Ihre ummauer¬ ten Städte in den Ebenen zeigen einen höhern Grad von Civilisation, als noch in Thucydides Zeit die Aetoler und ozolischen Lokrer kannten. In den Staaten des homerischen Griechenlands finden wir allgemein die monarchische Regierungsform. Die Königswürde war erblich, die Verdrängung des rechtmäßigen Thronerben gilt als ein bedenklicher Eingriff in die Ort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/330>, abgerufen am 23.07.2024.