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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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feinem Staub und dem Rinnen einzelner Tropfen. Aber wie sehr wir deshalb
auch in den lyrischen Dichtungen der jungen Generation eine durchgehende Ori¬
ginalität vermissen, es war doch noch möglich, in dem einzelnen Gedicht
mit correcter Form Artiges und Erfreuliches auszudrücken, und es ist sehr
zu verwundern, daß unsere Lyrik, fünfzig Jahr nach Goethe, neben wenigen
sicheren, melodienreichen Talenten, wie Geibel, schon eine solche Masse un-
behilflicher, schülerhafter und roher Conate zeigt.

Dagegen steht die epische Poesie ganz anders. Auch wenn sie sich nicht
die unlösbare Aufgabe stellt, breite Heldenstvffe in der Art der großen epischen
Dichtungen alter Zeit zu schaffen, kann sie größere Bildung und Selbstständig-
keit der Dichter, eine durch künstlerische Technik geregelte Phantasie, kurz ein
stärkeres Talent nicht entbehren. Schon der Vers eines solchen Gedichts bie¬
tet erhebliche Schwierigkeiten. Unsere Sprache hat bis jetzt keine Versform,
welche durch häufige .und erfolgreiche Behandlung für epische Zwecke so aus¬
gebildet wäre, daß sie dem Einzelnen einen wirksamen Ausdruck seiner
Anschauungen leicht machte. Was unsere Lyrik nach langer Blütenzeit
zu viel hat, Appretur und Vorbilder, das hat unser Epos, welches solche
Stützen vielleicht länger ertragen könnte, noch zu wenig. Weder der Hera¬
meter von Hermann und Dorothea, noch die Stanzen der italienischen Ueber¬
setzer, noch die Nibelungenstrophe in den kleinen Cabinetsstücken von Uhland,
noch irgendein anderes strophisches Maß sind nach den metrischen Gesetzen un¬
serer Sprache überall praktisch. Der Herameter ist einst bei einem fremden
Volk aus Klangverhältnissen der Wortsilben entstanden, die wir durch unsere
Hebungen und Senkungen nur unvollständig nachahmen können, er macht,
schon durch den trochäischen Fall, den er im Deutschen erhält, und gar mit mög¬
lichster Correctheit angewandt, die Diktion unvermeidlich steif und pretiös und wirb
bei nachlässiger Behandlung nur zu leicht hart und rauh. Es gehörte der feine
Sprachsinn Goethes dazu, ihn mit Freiheit zu gebrauchen. Die italienischen
Strophen sind noch schlimmer, der starke Versklang und die Reimfülle stören
dem deutschen Dichter die Jndividualistrung und verführen zu Sentenzen und
poetischen Phrasen. Der Nibelungenvers hat bei dem modernen Verhältniß
der deutschen Hoch- und Tiefaccente eine große Monotonie erhalten, die er im
Mittelalter nicht hatte. Die Cäsur in der Mitte theilt ihn leicht in zwei klap¬
pernde Theile, und die Verbindung des Langverses zu vierzeiliger Strophe'vermehrt
bei langathmigen Gedichten noch diese geräuschvolle Eintönigkeit. Hier und da hat
man eine freiere Behandlung desselben ohne Strophen in fortlaufendem Flusse ver¬
sucht, nicht ohne Glück. Immer aber bleibt ihm eine starke, eigenthümliche Farbe,
welche zu vielen Stoffen nicht paßt. Da nun die Wörter unserer Sprache einen
vorwiegend trochäischen Fall haben und längere trochäische Verse deshalb nicht in
festem Band zusammenzuhalten sind, sondern unvermeidlich in Stücke auseinander-


feinem Staub und dem Rinnen einzelner Tropfen. Aber wie sehr wir deshalb
auch in den lyrischen Dichtungen der jungen Generation eine durchgehende Ori¬
ginalität vermissen, es war doch noch möglich, in dem einzelnen Gedicht
mit correcter Form Artiges und Erfreuliches auszudrücken, und es ist sehr
zu verwundern, daß unsere Lyrik, fünfzig Jahr nach Goethe, neben wenigen
sicheren, melodienreichen Talenten, wie Geibel, schon eine solche Masse un-
behilflicher, schülerhafter und roher Conate zeigt.

Dagegen steht die epische Poesie ganz anders. Auch wenn sie sich nicht
die unlösbare Aufgabe stellt, breite Heldenstvffe in der Art der großen epischen
Dichtungen alter Zeit zu schaffen, kann sie größere Bildung und Selbstständig-
keit der Dichter, eine durch künstlerische Technik geregelte Phantasie, kurz ein
stärkeres Talent nicht entbehren. Schon der Vers eines solchen Gedichts bie¬
tet erhebliche Schwierigkeiten. Unsere Sprache hat bis jetzt keine Versform,
welche durch häufige .und erfolgreiche Behandlung für epische Zwecke so aus¬
gebildet wäre, daß sie dem Einzelnen einen wirksamen Ausdruck seiner
Anschauungen leicht machte. Was unsere Lyrik nach langer Blütenzeit
zu viel hat, Appretur und Vorbilder, das hat unser Epos, welches solche
Stützen vielleicht länger ertragen könnte, noch zu wenig. Weder der Hera¬
meter von Hermann und Dorothea, noch die Stanzen der italienischen Ueber¬
setzer, noch die Nibelungenstrophe in den kleinen Cabinetsstücken von Uhland,
noch irgendein anderes strophisches Maß sind nach den metrischen Gesetzen un¬
serer Sprache überall praktisch. Der Herameter ist einst bei einem fremden
Volk aus Klangverhältnissen der Wortsilben entstanden, die wir durch unsere
Hebungen und Senkungen nur unvollständig nachahmen können, er macht,
schon durch den trochäischen Fall, den er im Deutschen erhält, und gar mit mög¬
lichster Correctheit angewandt, die Diktion unvermeidlich steif und pretiös und wirb
bei nachlässiger Behandlung nur zu leicht hart und rauh. Es gehörte der feine
Sprachsinn Goethes dazu, ihn mit Freiheit zu gebrauchen. Die italienischen
Strophen sind noch schlimmer, der starke Versklang und die Reimfülle stören
dem deutschen Dichter die Jndividualistrung und verführen zu Sentenzen und
poetischen Phrasen. Der Nibelungenvers hat bei dem modernen Verhältniß
der deutschen Hoch- und Tiefaccente eine große Monotonie erhalten, die er im
Mittelalter nicht hatte. Die Cäsur in der Mitte theilt ihn leicht in zwei klap¬
pernde Theile, und die Verbindung des Langverses zu vierzeiliger Strophe'vermehrt
bei langathmigen Gedichten noch diese geräuschvolle Eintönigkeit. Hier und da hat
man eine freiere Behandlung desselben ohne Strophen in fortlaufendem Flusse ver¬
sucht, nicht ohne Glück. Immer aber bleibt ihm eine starke, eigenthümliche Farbe,
welche zu vielen Stoffen nicht paßt. Da nun die Wörter unserer Sprache einen
vorwiegend trochäischen Fall haben und längere trochäische Verse deshalb nicht in
festem Band zusammenzuhalten sind, sondern unvermeidlich in Stücke auseinander-


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[0290] feinem Staub und dem Rinnen einzelner Tropfen. Aber wie sehr wir deshalb auch in den lyrischen Dichtungen der jungen Generation eine durchgehende Ori¬ ginalität vermissen, es war doch noch möglich, in dem einzelnen Gedicht mit correcter Form Artiges und Erfreuliches auszudrücken, und es ist sehr zu verwundern, daß unsere Lyrik, fünfzig Jahr nach Goethe, neben wenigen sicheren, melodienreichen Talenten, wie Geibel, schon eine solche Masse un- behilflicher, schülerhafter und roher Conate zeigt. Dagegen steht die epische Poesie ganz anders. Auch wenn sie sich nicht die unlösbare Aufgabe stellt, breite Heldenstvffe in der Art der großen epischen Dichtungen alter Zeit zu schaffen, kann sie größere Bildung und Selbstständig- keit der Dichter, eine durch künstlerische Technik geregelte Phantasie, kurz ein stärkeres Talent nicht entbehren. Schon der Vers eines solchen Gedichts bie¬ tet erhebliche Schwierigkeiten. Unsere Sprache hat bis jetzt keine Versform, welche durch häufige .und erfolgreiche Behandlung für epische Zwecke so aus¬ gebildet wäre, daß sie dem Einzelnen einen wirksamen Ausdruck seiner Anschauungen leicht machte. Was unsere Lyrik nach langer Blütenzeit zu viel hat, Appretur und Vorbilder, das hat unser Epos, welches solche Stützen vielleicht länger ertragen könnte, noch zu wenig. Weder der Hera¬ meter von Hermann und Dorothea, noch die Stanzen der italienischen Ueber¬ setzer, noch die Nibelungenstrophe in den kleinen Cabinetsstücken von Uhland, noch irgendein anderes strophisches Maß sind nach den metrischen Gesetzen un¬ serer Sprache überall praktisch. Der Herameter ist einst bei einem fremden Volk aus Klangverhältnissen der Wortsilben entstanden, die wir durch unsere Hebungen und Senkungen nur unvollständig nachahmen können, er macht, schon durch den trochäischen Fall, den er im Deutschen erhält, und gar mit mög¬ lichster Correctheit angewandt, die Diktion unvermeidlich steif und pretiös und wirb bei nachlässiger Behandlung nur zu leicht hart und rauh. Es gehörte der feine Sprachsinn Goethes dazu, ihn mit Freiheit zu gebrauchen. Die italienischen Strophen sind noch schlimmer, der starke Versklang und die Reimfülle stören dem deutschen Dichter die Jndividualistrung und verführen zu Sentenzen und poetischen Phrasen. Der Nibelungenvers hat bei dem modernen Verhältniß der deutschen Hoch- und Tiefaccente eine große Monotonie erhalten, die er im Mittelalter nicht hatte. Die Cäsur in der Mitte theilt ihn leicht in zwei klap¬ pernde Theile, und die Verbindung des Langverses zu vierzeiliger Strophe'vermehrt bei langathmigen Gedichten noch diese geräuschvolle Eintönigkeit. Hier und da hat man eine freiere Behandlung desselben ohne Strophen in fortlaufendem Flusse ver¬ sucht, nicht ohne Glück. Immer aber bleibt ihm eine starke, eigenthümliche Farbe, welche zu vielen Stoffen nicht paßt. Da nun die Wörter unserer Sprache einen vorwiegend trochäischen Fall haben und längere trochäische Verse deshalb nicht in festem Band zusammenzuhalten sind, sondern unvermeidlich in Stücke auseinander-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/290>, abgerufen am 23.07.2024.