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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Kann man sich wundern, wenn der Edelmann, zerrüttet an Vermögen, Ge¬
sundheit und Sitte wie er war, für die übermächtigen Nachbarn abwechselnd
nur beschränkte Verachtung und eigennützige Unterwürfigkeit hatte, wenn der
Bürger die deutsche Eroberung mit Freuden, und der Bauer auch die russische
Herrschaft mit Gleichgiltigkeit beginnen sah? Oder ist es befremdlich, wenn der
Gutsherr, der sein Lebenlang den Bürgern seine Rechtssprüche verkauft, und
der Beamte, der von jeher in dem Staate nur die Quelle der Bereicherung
gesehen hatte, jetzt auch den russischen Agenten seine Wahlstimme veräußerte?




Briefe aus Schleswig-Holstein.
Von'Flensburg nach Tondern.

Die beiden Briefe über Angeln, die ich mit Beispielen und Beweisen für
das im letzten Briefe Behauptete zu füllen gedachte, spare ich für einen an¬
dern Zusammenhang auf. Ebenso das Bild von Flensburg, seinen Zuständen
und Parteien und ebenso meine Beobachtungen und Erfahrungen im Sunde-
witt, auf Alsen, im Haderslebenschen und in Kolding.

Gar vieles von dem , was Tagebuch und Gedächtniß aus diesen Strichen
aufbewahren, verlockt zu unmittelbarer Mittheilung. Da ist die prächtige Bucht
von Flensburg und das anmuthige Waldörtchen Gravenstein und die entzückende
Mondnacht, die ich am User seines Noors verlebte. Dort die Aussicht von
der düppler Schanze, dort der sonnige Sonntag, an dem ich vom Higcberge
aus Alsen über den dunkeln Buchenwald an der Küste und dem stillen blauen
Belt nach dem gelben Strande von Fühnen hinüberschaute, von wo dem Lande
so viel Unheil gekommen, dort neben der dürren Haide mit ihren Sagen und
Runensteinen die reizende Bucht von Gjenner und die lieblichen Thäler und
Hügel von Kirkebye, dort Christiansfeld, das Hcrrnhutcrdorf, die stolze Ruine
von Kolding und die stolzere Erinnerung an seine Schlacht. Da will die eine
und die andere heitere Anekdote durchaus aus Plattdeutsch erzählt sein, dort und
dort drängen sich Klagen auf Klagen über den Druck und die Willkür der
dänischen Beamten zur Veröffentlichung und von dort her seufzen die Glocken
Angelus im Chor über leere Kirchen, in Haß verwandelte Liebe und lang¬
sam dahinsterbende Gottesfurcht.

Indeß der Ostseite des Landes ist vorläufig hinreichend Rechnung getra¬
gen. Die Zeit drängt, auch der Norden und die Landesmitte und vor allem
die Westseite mit ihren Marschen und ihrem grimmigen Meere fordern ihr Recht
und so mögen jene anmuthreichen Landschaftsbilder bis auf weiteres mit der
bloßen Erwähnung zufrieden sein, die plattdeutschen Anekdoten bis auf weiteres


Kann man sich wundern, wenn der Edelmann, zerrüttet an Vermögen, Ge¬
sundheit und Sitte wie er war, für die übermächtigen Nachbarn abwechselnd
nur beschränkte Verachtung und eigennützige Unterwürfigkeit hatte, wenn der
Bürger die deutsche Eroberung mit Freuden, und der Bauer auch die russische
Herrschaft mit Gleichgiltigkeit beginnen sah? Oder ist es befremdlich, wenn der
Gutsherr, der sein Lebenlang den Bürgern seine Rechtssprüche verkauft, und
der Beamte, der von jeher in dem Staate nur die Quelle der Bereicherung
gesehen hatte, jetzt auch den russischen Agenten seine Wahlstimme veräußerte?




Briefe aus Schleswig-Holstein.
Von'Flensburg nach Tondern.

Die beiden Briefe über Angeln, die ich mit Beispielen und Beweisen für
das im letzten Briefe Behauptete zu füllen gedachte, spare ich für einen an¬
dern Zusammenhang auf. Ebenso das Bild von Flensburg, seinen Zuständen
und Parteien und ebenso meine Beobachtungen und Erfahrungen im Sunde-
witt, auf Alsen, im Haderslebenschen und in Kolding.

Gar vieles von dem , was Tagebuch und Gedächtniß aus diesen Strichen
aufbewahren, verlockt zu unmittelbarer Mittheilung. Da ist die prächtige Bucht
von Flensburg und das anmuthige Waldörtchen Gravenstein und die entzückende
Mondnacht, die ich am User seines Noors verlebte. Dort die Aussicht von
der düppler Schanze, dort der sonnige Sonntag, an dem ich vom Higcberge
aus Alsen über den dunkeln Buchenwald an der Küste und dem stillen blauen
Belt nach dem gelben Strande von Fühnen hinüberschaute, von wo dem Lande
so viel Unheil gekommen, dort neben der dürren Haide mit ihren Sagen und
Runensteinen die reizende Bucht von Gjenner und die lieblichen Thäler und
Hügel von Kirkebye, dort Christiansfeld, das Hcrrnhutcrdorf, die stolze Ruine
von Kolding und die stolzere Erinnerung an seine Schlacht. Da will die eine
und die andere heitere Anekdote durchaus aus Plattdeutsch erzählt sein, dort und
dort drängen sich Klagen auf Klagen über den Druck und die Willkür der
dänischen Beamten zur Veröffentlichung und von dort her seufzen die Glocken
Angelus im Chor über leere Kirchen, in Haß verwandelte Liebe und lang¬
sam dahinsterbende Gottesfurcht.

Indeß der Ostseite des Landes ist vorläufig hinreichend Rechnung getra¬
gen. Die Zeit drängt, auch der Norden und die Landesmitte und vor allem
die Westseite mit ihren Marschen und ihrem grimmigen Meere fordern ihr Recht
und so mögen jene anmuthreichen Landschaftsbilder bis auf weiteres mit der
bloßen Erwähnung zufrieden sein, die plattdeutschen Anekdoten bis auf weiteres


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[0262] Kann man sich wundern, wenn der Edelmann, zerrüttet an Vermögen, Ge¬ sundheit und Sitte wie er war, für die übermächtigen Nachbarn abwechselnd nur beschränkte Verachtung und eigennützige Unterwürfigkeit hatte, wenn der Bürger die deutsche Eroberung mit Freuden, und der Bauer auch die russische Herrschaft mit Gleichgiltigkeit beginnen sah? Oder ist es befremdlich, wenn der Gutsherr, der sein Lebenlang den Bürgern seine Rechtssprüche verkauft, und der Beamte, der von jeher in dem Staate nur die Quelle der Bereicherung gesehen hatte, jetzt auch den russischen Agenten seine Wahlstimme veräußerte? Briefe aus Schleswig-Holstein. Von'Flensburg nach Tondern. Die beiden Briefe über Angeln, die ich mit Beispielen und Beweisen für das im letzten Briefe Behauptete zu füllen gedachte, spare ich für einen an¬ dern Zusammenhang auf. Ebenso das Bild von Flensburg, seinen Zuständen und Parteien und ebenso meine Beobachtungen und Erfahrungen im Sunde- witt, auf Alsen, im Haderslebenschen und in Kolding. Gar vieles von dem , was Tagebuch und Gedächtniß aus diesen Strichen aufbewahren, verlockt zu unmittelbarer Mittheilung. Da ist die prächtige Bucht von Flensburg und das anmuthige Waldörtchen Gravenstein und die entzückende Mondnacht, die ich am User seines Noors verlebte. Dort die Aussicht von der düppler Schanze, dort der sonnige Sonntag, an dem ich vom Higcberge aus Alsen über den dunkeln Buchenwald an der Küste und dem stillen blauen Belt nach dem gelben Strande von Fühnen hinüberschaute, von wo dem Lande so viel Unheil gekommen, dort neben der dürren Haide mit ihren Sagen und Runensteinen die reizende Bucht von Gjenner und die lieblichen Thäler und Hügel von Kirkebye, dort Christiansfeld, das Hcrrnhutcrdorf, die stolze Ruine von Kolding und die stolzere Erinnerung an seine Schlacht. Da will die eine und die andere heitere Anekdote durchaus aus Plattdeutsch erzählt sein, dort und dort drängen sich Klagen auf Klagen über den Druck und die Willkür der dänischen Beamten zur Veröffentlichung und von dort her seufzen die Glocken Angelus im Chor über leere Kirchen, in Haß verwandelte Liebe und lang¬ sam dahinsterbende Gottesfurcht. Indeß der Ostseite des Landes ist vorläufig hinreichend Rechnung getra¬ gen. Die Zeit drängt, auch der Norden und die Landesmitte und vor allem die Westseite mit ihren Marschen und ihrem grimmigen Meere fordern ihr Recht und so mögen jene anmuthreichen Landschaftsbilder bis auf weiteres mit der bloßen Erwähnung zufrieden sein, die plattdeutschen Anekdoten bis auf weiteres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/262>, abgerufen am 23.07.2024.