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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Auftretens, Sprachgewandtheit, Galanterie, rasches Ergreifen oberflächlicher
Kenntnisse. Aber an keiner Stelle reichte die Bildung so tief, um den Charak¬
ter zu gestalten, die Leidenschaft zu zügeln, die sittliche Haltung zu befestigen.
Ein geordneter Haushalt war bei den Einzelnen so selten wie bei den öffent¬
lichen Kassen; neben fürstlicher Pracht breitete sich widerliche Unredlichkeit aus;
leuchtende Toiletten waren mit Ungeziefer bedeckt und bei prunkenden Festen
der Gebrauch der Schnupftücher ein unbekannter Lurus. Was für die niedern
Classen der Branntwein, war der Tokaier sür die höheren; mit dem Trunke
wetteiferte das Spiel, dem sich Männer und Weiber jedes Alters mit rasender
Leidenschaft zudrängten. Der gesellige Umgang bewegte sich in ungezwungenen
Formen, ohne irgendeine Steifheit noch Einschränkung, so daß der Fremde,
vor allem der herüberkommende Deutsche, anfangs des Entzückens voll war.
Aber auch hier schlug die Freiheit in Zügellosigkeit um, und der Ton der vor¬
nehmen Gesellschaft traf in entsetzlicher Weise mit dem Einflüsse der Leibeigen¬
schaft zusammen. In Polen wie überall zerstörte die Sklaverei, bei der mensch¬
liche Wesen nicht als Menschen geachtet werden, in den Herren selbst den
Kern aller Sitte, die Scham. Der Verkehr unter den Geschlechtern war hier
ohne schützende Formen, weil die Gesinnung beider Theile Zucht und Scheu
verloren hatte. Die Mädchen heiratheten, um ihre eignen Herrinnen zu werden,
und nichts war leichter und gebräuchlicher, als die Scheidung einer so ge¬
schlossenen Ehe; man konnte Jahrelang mit einer Dame verkehren, ohne zu
erfahren, ob sie von ihrem Manne getrennt oder mit dem wievielsten sie ver¬
heirathet sei. Den dunkelsten Zug aber dieses Bildes sei mit den Worten des
königlichen Leibarztes Lafontaine anzuführen verstattet -- es ist übel von sol¬
chen Dingen zu reden, aber erst durch sie wird der Sturz des polnischen
Reiches verständlich-- : unter unsern Krankheitsfällen verhält sich die Lustseuche
gegen die sonstigen Uebel wie sechs zu zehn, unter hundert Recruten waren in
Warschau voriges Jahr achtzig venerisch, und häufig habe ich junge Mädchen
von zwei, drei und mehrern Jahren von angeborenen Leiden dieser Art ergriffen
gesehn: wer das Uebel nicht durch eigne Schuld bekommt, der hat es entweder
ererbt, oder durch die Amme erhalten, von welchen man unter zwanzig gewiß
funfzelm mit diesem Uebel behaftete rechnen kann.

Wird es nöthig sein, den Staat, der von solchen Menschen beherrscht
wurde, in seinen einzelnen Verwaltungszweigen zu schildern, demselben Schau¬
spiele der Auflösung und Verwitterung in Justiz und Finanzen, in Verwaltung
und Heerwesen nachzugehn, die überall wiederkehrende Verwilderung, Gewalt¬
thätigkeit und Selbstsucht an thatsächlichen Proben zu schildern? Alle herrschen¬
den Polen waren voll Eifer, für die Republik zu streiten und die meisten auch
bereit, für das Vaterland zu sterben: aber sehr wenige mochten dem Gesammt-
wohl ihre Trägheit und Unbeständigkeit, ihre Vortheile und Genüsse opfern.


Auftretens, Sprachgewandtheit, Galanterie, rasches Ergreifen oberflächlicher
Kenntnisse. Aber an keiner Stelle reichte die Bildung so tief, um den Charak¬
ter zu gestalten, die Leidenschaft zu zügeln, die sittliche Haltung zu befestigen.
Ein geordneter Haushalt war bei den Einzelnen so selten wie bei den öffent¬
lichen Kassen; neben fürstlicher Pracht breitete sich widerliche Unredlichkeit aus;
leuchtende Toiletten waren mit Ungeziefer bedeckt und bei prunkenden Festen
der Gebrauch der Schnupftücher ein unbekannter Lurus. Was für die niedern
Classen der Branntwein, war der Tokaier sür die höheren; mit dem Trunke
wetteiferte das Spiel, dem sich Männer und Weiber jedes Alters mit rasender
Leidenschaft zudrängten. Der gesellige Umgang bewegte sich in ungezwungenen
Formen, ohne irgendeine Steifheit noch Einschränkung, so daß der Fremde,
vor allem der herüberkommende Deutsche, anfangs des Entzückens voll war.
Aber auch hier schlug die Freiheit in Zügellosigkeit um, und der Ton der vor¬
nehmen Gesellschaft traf in entsetzlicher Weise mit dem Einflüsse der Leibeigen¬
schaft zusammen. In Polen wie überall zerstörte die Sklaverei, bei der mensch¬
liche Wesen nicht als Menschen geachtet werden, in den Herren selbst den
Kern aller Sitte, die Scham. Der Verkehr unter den Geschlechtern war hier
ohne schützende Formen, weil die Gesinnung beider Theile Zucht und Scheu
verloren hatte. Die Mädchen heiratheten, um ihre eignen Herrinnen zu werden,
und nichts war leichter und gebräuchlicher, als die Scheidung einer so ge¬
schlossenen Ehe; man konnte Jahrelang mit einer Dame verkehren, ohne zu
erfahren, ob sie von ihrem Manne getrennt oder mit dem wievielsten sie ver¬
heirathet sei. Den dunkelsten Zug aber dieses Bildes sei mit den Worten des
königlichen Leibarztes Lafontaine anzuführen verstattet — es ist übel von sol¬
chen Dingen zu reden, aber erst durch sie wird der Sturz des polnischen
Reiches verständlich— : unter unsern Krankheitsfällen verhält sich die Lustseuche
gegen die sonstigen Uebel wie sechs zu zehn, unter hundert Recruten waren in
Warschau voriges Jahr achtzig venerisch, und häufig habe ich junge Mädchen
von zwei, drei und mehrern Jahren von angeborenen Leiden dieser Art ergriffen
gesehn: wer das Uebel nicht durch eigne Schuld bekommt, der hat es entweder
ererbt, oder durch die Amme erhalten, von welchen man unter zwanzig gewiß
funfzelm mit diesem Uebel behaftete rechnen kann.

Wird es nöthig sein, den Staat, der von solchen Menschen beherrscht
wurde, in seinen einzelnen Verwaltungszweigen zu schildern, demselben Schau¬
spiele der Auflösung und Verwitterung in Justiz und Finanzen, in Verwaltung
und Heerwesen nachzugehn, die überall wiederkehrende Verwilderung, Gewalt¬
thätigkeit und Selbstsucht an thatsächlichen Proben zu schildern? Alle herrschen¬
den Polen waren voll Eifer, für die Republik zu streiten und die meisten auch
bereit, für das Vaterland zu sterben: aber sehr wenige mochten dem Gesammt-
wohl ihre Trägheit und Unbeständigkeit, ihre Vortheile und Genüsse opfern.


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[0261] Auftretens, Sprachgewandtheit, Galanterie, rasches Ergreifen oberflächlicher Kenntnisse. Aber an keiner Stelle reichte die Bildung so tief, um den Charak¬ ter zu gestalten, die Leidenschaft zu zügeln, die sittliche Haltung zu befestigen. Ein geordneter Haushalt war bei den Einzelnen so selten wie bei den öffent¬ lichen Kassen; neben fürstlicher Pracht breitete sich widerliche Unredlichkeit aus; leuchtende Toiletten waren mit Ungeziefer bedeckt und bei prunkenden Festen der Gebrauch der Schnupftücher ein unbekannter Lurus. Was für die niedern Classen der Branntwein, war der Tokaier sür die höheren; mit dem Trunke wetteiferte das Spiel, dem sich Männer und Weiber jedes Alters mit rasender Leidenschaft zudrängten. Der gesellige Umgang bewegte sich in ungezwungenen Formen, ohne irgendeine Steifheit noch Einschränkung, so daß der Fremde, vor allem der herüberkommende Deutsche, anfangs des Entzückens voll war. Aber auch hier schlug die Freiheit in Zügellosigkeit um, und der Ton der vor¬ nehmen Gesellschaft traf in entsetzlicher Weise mit dem Einflüsse der Leibeigen¬ schaft zusammen. In Polen wie überall zerstörte die Sklaverei, bei der mensch¬ liche Wesen nicht als Menschen geachtet werden, in den Herren selbst den Kern aller Sitte, die Scham. Der Verkehr unter den Geschlechtern war hier ohne schützende Formen, weil die Gesinnung beider Theile Zucht und Scheu verloren hatte. Die Mädchen heiratheten, um ihre eignen Herrinnen zu werden, und nichts war leichter und gebräuchlicher, als die Scheidung einer so ge¬ schlossenen Ehe; man konnte Jahrelang mit einer Dame verkehren, ohne zu erfahren, ob sie von ihrem Manne getrennt oder mit dem wievielsten sie ver¬ heirathet sei. Den dunkelsten Zug aber dieses Bildes sei mit den Worten des königlichen Leibarztes Lafontaine anzuführen verstattet — es ist übel von sol¬ chen Dingen zu reden, aber erst durch sie wird der Sturz des polnischen Reiches verständlich— : unter unsern Krankheitsfällen verhält sich die Lustseuche gegen die sonstigen Uebel wie sechs zu zehn, unter hundert Recruten waren in Warschau voriges Jahr achtzig venerisch, und häufig habe ich junge Mädchen von zwei, drei und mehrern Jahren von angeborenen Leiden dieser Art ergriffen gesehn: wer das Uebel nicht durch eigne Schuld bekommt, der hat es entweder ererbt, oder durch die Amme erhalten, von welchen man unter zwanzig gewiß funfzelm mit diesem Uebel behaftete rechnen kann. Wird es nöthig sein, den Staat, der von solchen Menschen beherrscht wurde, in seinen einzelnen Verwaltungszweigen zu schildern, demselben Schau¬ spiele der Auflösung und Verwitterung in Justiz und Finanzen, in Verwaltung und Heerwesen nachzugehn, die überall wiederkehrende Verwilderung, Gewalt¬ thätigkeit und Selbstsucht an thatsächlichen Proben zu schildern? Alle herrschen¬ den Polen waren voll Eifer, für die Republik zu streiten und die meisten auch bereit, für das Vaterland zu sterben: aber sehr wenige mochten dem Gesammt- wohl ihre Trägheit und Unbeständigkeit, ihre Vortheile und Genüsse opfern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/261>, abgerufen am 23.07.2024.