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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Auch den sittlichen und poetischen Kundgebungen des Stammes der Li¬
thauer hat lange Zeit nur die Wildniß mit ihren Rehen gelauscht und von
seinem ganzen Erdendasein ist nichts erhalten worden, als ein Blatt.

Wie durch ein Wunder hat sich der Nest der lithauischen Nationalität
mit der kurischen, lettischen, esthnischen und livischen aus den fanatischen
Vertilgungskriegen deS deutschen Ordens bis in die Gegenwart gerettet, während
die Existenz der Slawen des nördlichen Deutschlands in der deutschen Cultur
längst erlosch. Man kann sich diese Erscheinung nur in der Weise erklären,
daß das ursprüngliche heidnisch-religiöse Leben dieser Völker, indem es sich über
das fremde, nur oberflächlich übertragene Christenthum hinaussetzte, ihnen in
allen politischen Veränderungen eine Lebenskraft bewahrte, die sich erst in
langen Zeitläuften und bei der immer heftiger andringenden christlichen Cultur
abschwächen konnte. Ueberreste des Heidenthums findet man heutzutage noch
bei allen jenen Völkerstämmen, so in ihrem Leben als Aberglauben und als
feierlichen Gebrauch, wie in ihren Liedern als mythische, nunmehr freilich nur
selten oder halbverstandene Anspielung.

Für die sociale und historische Entwicklung der Völker sind die lithauischen
und finnischen Stämme verloren; nach außen hin haben sie nichts wirken
können; aber desto mehr hat sich die ganze Fülle ihres Gemüthes und
ihrer Liebenswürdigkeit nach innen gewandt, um am Feuer des Herdes zu
wohnen und das Familienleben durch Sitte und Zartheit zu verschönen.
Mit Erstaunen erfüllt es uns, welch eine immer rege Phantasie, welch eine
innige Empfindung, welch ein treffender Witz selbst das kümmerlichste Leben
des Leibeignen erheitert, welche holden Sterne diese Halbmenschen zu beschwö¬
ren vermögen, daß sie durch die Wolken ihrer Trübsal leuchten. Zwar bei
demjenigen Theile dieser Völkerstämme, der durch die traurigste Leibeigenschaft
gekettet ist, durchdringt oft ein schriller Weheschrei die lieblichen Liedesklänge;
aber selten ist es ein langgehaltener Klageton; am häufigsten ist es ein ver-
zweiflungSvolles Aufjauchzen des Schmerzes, der in bitterem Lachen, mit her¬
bem, das eigne Unglück geißelnden Witz dem instinctmäßigen Groll gegen die
Härte des Herrenthums Luft macht.

Anders ist es bei den Nölkerstämmcn, die durch nähere Berührung mit
germanischer Cultur ihre Nationalität zwar eingebüßt haben, doch unter
milderen Sceptern, unter günstigeren Verhältnissen zum Theil in heitern Wohl¬
stande leben, wie die Reste der Lithauer, deren Betrachtung unserm Geiste diese
Bilder vorgeführt hat. Ihr äußeres Wohlsein hat, an den vortheilhaften Ver¬
änderungen jeden Antheil genommen, durch die eine umsichtige Regierung schon
eine Reihe von Jahren hindurch bemüht ist, den Zustand jener östlichen Pro¬
vinzen des deutschen Geistes emporzuheben. Hier in den Hütten des Lithauers
-- wenn wir noch so glücklich sind, eine solche aufzufinden, die abgesondert


Auch den sittlichen und poetischen Kundgebungen des Stammes der Li¬
thauer hat lange Zeit nur die Wildniß mit ihren Rehen gelauscht und von
seinem ganzen Erdendasein ist nichts erhalten worden, als ein Blatt.

Wie durch ein Wunder hat sich der Nest der lithauischen Nationalität
mit der kurischen, lettischen, esthnischen und livischen aus den fanatischen
Vertilgungskriegen deS deutschen Ordens bis in die Gegenwart gerettet, während
die Existenz der Slawen des nördlichen Deutschlands in der deutschen Cultur
längst erlosch. Man kann sich diese Erscheinung nur in der Weise erklären,
daß das ursprüngliche heidnisch-religiöse Leben dieser Völker, indem es sich über
das fremde, nur oberflächlich übertragene Christenthum hinaussetzte, ihnen in
allen politischen Veränderungen eine Lebenskraft bewahrte, die sich erst in
langen Zeitläuften und bei der immer heftiger andringenden christlichen Cultur
abschwächen konnte. Ueberreste des Heidenthums findet man heutzutage noch
bei allen jenen Völkerstämmen, so in ihrem Leben als Aberglauben und als
feierlichen Gebrauch, wie in ihren Liedern als mythische, nunmehr freilich nur
selten oder halbverstandene Anspielung.

Für die sociale und historische Entwicklung der Völker sind die lithauischen
und finnischen Stämme verloren; nach außen hin haben sie nichts wirken
können; aber desto mehr hat sich die ganze Fülle ihres Gemüthes und
ihrer Liebenswürdigkeit nach innen gewandt, um am Feuer des Herdes zu
wohnen und das Familienleben durch Sitte und Zartheit zu verschönen.
Mit Erstaunen erfüllt es uns, welch eine immer rege Phantasie, welch eine
innige Empfindung, welch ein treffender Witz selbst das kümmerlichste Leben
des Leibeignen erheitert, welche holden Sterne diese Halbmenschen zu beschwö¬
ren vermögen, daß sie durch die Wolken ihrer Trübsal leuchten. Zwar bei
demjenigen Theile dieser Völkerstämme, der durch die traurigste Leibeigenschaft
gekettet ist, durchdringt oft ein schriller Weheschrei die lieblichen Liedesklänge;
aber selten ist es ein langgehaltener Klageton; am häufigsten ist es ein ver-
zweiflungSvolles Aufjauchzen des Schmerzes, der in bitterem Lachen, mit her¬
bem, das eigne Unglück geißelnden Witz dem instinctmäßigen Groll gegen die
Härte des Herrenthums Luft macht.

Anders ist es bei den Nölkerstämmcn, die durch nähere Berührung mit
germanischer Cultur ihre Nationalität zwar eingebüßt haben, doch unter
milderen Sceptern, unter günstigeren Verhältnissen zum Theil in heitern Wohl¬
stande leben, wie die Reste der Lithauer, deren Betrachtung unserm Geiste diese
Bilder vorgeführt hat. Ihr äußeres Wohlsein hat, an den vortheilhaften Ver¬
änderungen jeden Antheil genommen, durch die eine umsichtige Regierung schon
eine Reihe von Jahren hindurch bemüht ist, den Zustand jener östlichen Pro¬
vinzen des deutschen Geistes emporzuheben. Hier in den Hütten des Lithauers
— wenn wir noch so glücklich sind, eine solche aufzufinden, die abgesondert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/200>, abgerufen am 23.07.2024.