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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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kann, wenn man nicht etwas davon in der eignen Seele trägt. Und dies
ist eins der wichtigsten Motive für den unbestreitbaren Erfolg der wagnerschen
Oper. Freilich hat die organistrte Propaganda, die seit fünf Jahren mit einer
unerhörten Ausdauer im Dienste ihres Meisters arbeitet, gleichfalls viel dazu
beigetragen; aber selbst die Eristenz jener Propaganda ist zum Theil die Folge
jenes Idealismus, der nach dem Gesetze der Anziehung wirkt.

Da der Berliner im Allgemeinen für jede Art von Enthusiasmus schnell
empfänglich ist, so hatte ich darauf gerechnet, daß wenigstens zu Anfang ein
allgemeiner Rausch sich zeigen würde, wenn er auch nicht lange dauerte.' Bis
jetzt hat der Erfolg meine Vermuthung nicht bestätigt. Daß die musikalischen
Kritiker (Rellstab, Engel, Gumprecht u. s. w.) einstimmig die neue Gattung
verurtheilt haben, wäre an sich noch nicht entscheidend, weil die Kritik mit
der öffentlichen Stimmung nicht immer Hand in Hand geht; was aber die
letztere betrifft, so können avir einen unverdächtigen Zeugen anführen, nämlich
Herrn v. Bülow, der sich hier als Hauptagent der Partei aufhält, und der
in seiner Recension zugesteht, die Oper habe entschiedenes Fiasco gemacht;
von einem sueess Ä'östims könne gar keine Rede sein, die Masse sei nicht nur
gelangweilt, sondern mit entschiedenem Widerwillen aus dem Stücke gegangen.
Freilich setzt er hinzu, daß die fünf ersten Vorstellungen in dieser Hinsicht noch
nichts beweisen, erst müsse die Masse der oberflächlichen Neugierigen sich ver¬
laufen haben, bevor der andächtige Zuhörer eintreten könne. Die stille Ge¬
meinde, die an keinem Ort ausgeblieben sei, wo man nur den Muth gehabt
habe, mit der Ausführung fortzufahren, werde auch in Berlin eine reiche Ernte
gewinnen.

Nun könnte es überflüssig scheinen, in diesem Blatt, wo vor drei Jahren
bei der ersten Ausführung des Tannhäuser in Leipzig ein glänzender Kritiker
die musikalische Seite dieses Dramas erschöpfend behandelt, noch einmal darauf
einzugehen. Allein ich glaube, daß der Standpunkt, den die Kritik jetzt ein¬
nehmen, kann, ein anderer ist. Damals handelte es sich um eine Principien¬
frage; die neue Gemeinde der Zukunft trat mit siegesstolzem Uebermuth in die
Schranken gegen die alte Kunst, und es galt damals, die Scheide von sich
zu werfen und rücksichtslos dem Gegner zu Leibe zu gehen. Von dem Prin-
eipienkampse ist jetzt nicht mehr die Rede; die sogenannten Principien Wagners
sind allgemein bekannt, die Uebertreibungen seiner Fanatiker allgemein aus¬
gelacht; zwar heißt es, daß in einem neuen Kunstwerke der Zukunft, in wel¬
chem ein Drache persönlich auftritt und eine Arie singt und welches drei Tage
dauert, diese Principien zur vollsten Erscheinung kommen sollen. Allein daS
kann man ja abwarten, und sich vorläufig, damit begnügen, die bisherigen
Leistungen als Opern der herkömmlichen Art zu betrachten. Bei der Sterilität
des letzten Jahrzehnts kann man in Deutschland eigentlich nur vier Opern


kann, wenn man nicht etwas davon in der eignen Seele trägt. Und dies
ist eins der wichtigsten Motive für den unbestreitbaren Erfolg der wagnerschen
Oper. Freilich hat die organistrte Propaganda, die seit fünf Jahren mit einer
unerhörten Ausdauer im Dienste ihres Meisters arbeitet, gleichfalls viel dazu
beigetragen; aber selbst die Eristenz jener Propaganda ist zum Theil die Folge
jenes Idealismus, der nach dem Gesetze der Anziehung wirkt.

Da der Berliner im Allgemeinen für jede Art von Enthusiasmus schnell
empfänglich ist, so hatte ich darauf gerechnet, daß wenigstens zu Anfang ein
allgemeiner Rausch sich zeigen würde, wenn er auch nicht lange dauerte.' Bis
jetzt hat der Erfolg meine Vermuthung nicht bestätigt. Daß die musikalischen
Kritiker (Rellstab, Engel, Gumprecht u. s. w.) einstimmig die neue Gattung
verurtheilt haben, wäre an sich noch nicht entscheidend, weil die Kritik mit
der öffentlichen Stimmung nicht immer Hand in Hand geht; was aber die
letztere betrifft, so können avir einen unverdächtigen Zeugen anführen, nämlich
Herrn v. Bülow, der sich hier als Hauptagent der Partei aufhält, und der
in seiner Recension zugesteht, die Oper habe entschiedenes Fiasco gemacht;
von einem sueess Ä'östims könne gar keine Rede sein, die Masse sei nicht nur
gelangweilt, sondern mit entschiedenem Widerwillen aus dem Stücke gegangen.
Freilich setzt er hinzu, daß die fünf ersten Vorstellungen in dieser Hinsicht noch
nichts beweisen, erst müsse die Masse der oberflächlichen Neugierigen sich ver¬
laufen haben, bevor der andächtige Zuhörer eintreten könne. Die stille Ge¬
meinde, die an keinem Ort ausgeblieben sei, wo man nur den Muth gehabt
habe, mit der Ausführung fortzufahren, werde auch in Berlin eine reiche Ernte
gewinnen.

Nun könnte es überflüssig scheinen, in diesem Blatt, wo vor drei Jahren
bei der ersten Ausführung des Tannhäuser in Leipzig ein glänzender Kritiker
die musikalische Seite dieses Dramas erschöpfend behandelt, noch einmal darauf
einzugehen. Allein ich glaube, daß der Standpunkt, den die Kritik jetzt ein¬
nehmen, kann, ein anderer ist. Damals handelte es sich um eine Principien¬
frage; die neue Gemeinde der Zukunft trat mit siegesstolzem Uebermuth in die
Schranken gegen die alte Kunst, und es galt damals, die Scheide von sich
zu werfen und rücksichtslos dem Gegner zu Leibe zu gehen. Von dem Prin-
eipienkampse ist jetzt nicht mehr die Rede; die sogenannten Principien Wagners
sind allgemein bekannt, die Uebertreibungen seiner Fanatiker allgemein aus¬
gelacht; zwar heißt es, daß in einem neuen Kunstwerke der Zukunft, in wel¬
chem ein Drache persönlich auftritt und eine Arie singt und welches drei Tage
dauert, diese Principien zur vollsten Erscheinung kommen sollen. Allein daS
kann man ja abwarten, und sich vorläufig, damit begnügen, die bisherigen
Leistungen als Opern der herkömmlichen Art zu betrachten. Bei der Sterilität
des letzten Jahrzehnts kann man in Deutschland eigentlich nur vier Opern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/190>, abgerufen am 23.07.2024.