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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Verfassung, wegzuradircn räthlich findet. Was namentlich die newlonschen
Anziehungsgesetze betrifft, so hat neuerdings die Berechnung des Neptun durch
Leverrier sie in einer so glänzenden Weise bestätigt, daß wenig Aussicht sie zu
widerlegen bleibt; wer es dennoch vermöchte, der würde als zweiter Newton
verehrt werden, denn in den mathematischen Wissenschaften enthält jede Wider¬
legung zugleich eine tiefere positive Erkenntniß; jede "Revision" lehrt Uner¬
kanntes begreisen und rückt das Unbegreifliche, anscheinend Wunderbare weiter
hinaus. Die übrigen Disciplinen sind allerdings von der Mathematik nicht
in dem Maße durchdrungen, wie die genannten, aber auch sie verdanken ihre
Fortschritte einer vortrefflichen und bewährten Methode, welche erst seit etwa
SS Jahren sich ausgebildet hat. Einestheils sind nämlich alle unbestimmten
Redensarten (wie Lebenskraft, dynamische Wirkungen u. tgi.) ausgemerzt und
an ihre Stelle das Wort "unbekannt" gesetzt (was unserm Verfasser auch nicht
gefällt S. 64), dadurch also das Erkannte von dem noch zu Erkennenden ge¬
schieden, anderntheils betrachtet man, um Täuschungen über das sinnlich Wahr¬
genommene zu entgehen, keine Beobachtung als wahr, bevor sie -- von allen
Beobachtern bestätigt worden ist, so daß sich Streitigkeiten darüber, ehe ein
sicheres Resultat gewonnen wird, oft jahrelang hinziehen. Davon hat unser
Verfasser gar keinen Begriff, er hält Neichenbachs Oddynamid "auf das
reichlichste" durch Experimente bewiesen, während dieser als einziger Beobachter
mit allen andern Naturforschern in Widerspruch steht. Wenn also auch wirk¬
lich, wie Verfasser behauptet, neun Zehntel unsers Wissens auf Autoritäts¬
glauben beruhten, so würden wir doch nicht den Glauben an die Autorität
gewissenhafter Forschung für geistige Taschenspielereien opfern, welche uns daS
Ob glauben und die Schwere bezweifeln lehren will; noch weniger aber wer¬
den wir das letzte selbst erkannte Zehntel gewissenlos in die allgemeine Be¬
griffsverwirrung hinterdrein werfen. Wo ist die Gewähr, daß der Verfasser
seine sogenannten inneren Thatsachen richtig beobachtet hat, wo seine unbe¬
streitbaren Ariome, wo der Beweis richtiger Folgerungen? Gibt es etwa im
Glauben eine nothwendige Uebereinstimmung oder sehen wir nicht vielmehr,
daß fast jeder Mensch den seinigen festhält ohne einem andern die Nichtigkeit
desselben nachweisen zu können? Nein, wenn der Glaube nichts Anderes sein
soll, als subjektives Meinen und ein Nachbeten eingelernter Sätze, wenn ein
protestantischer Geistlicher über unser höchstes geistiges Gut nichts Anderes zu
sagen weiß, als daß der Auioritätsglaube, eine fromme Gemüthsbeschaffenheit
und eine (vieldeutige) fortwährende Präsenz Christi ihn ausmache, dann muß
ein Laie sich berechtigt halten, das wahre Wesen des Glaubens gegen den
frommen Theologen zu vertheidigen!

Glauben und Wissen erscheinen zunächst als Resultate zweier entgegen¬
gesetzter, in ihrem Ausgangs- und Endpunkte aber identischer Seelenthätig-


Verfassung, wegzuradircn räthlich findet. Was namentlich die newlonschen
Anziehungsgesetze betrifft, so hat neuerdings die Berechnung des Neptun durch
Leverrier sie in einer so glänzenden Weise bestätigt, daß wenig Aussicht sie zu
widerlegen bleibt; wer es dennoch vermöchte, der würde als zweiter Newton
verehrt werden, denn in den mathematischen Wissenschaften enthält jede Wider¬
legung zugleich eine tiefere positive Erkenntniß; jede „Revision" lehrt Uner¬
kanntes begreisen und rückt das Unbegreifliche, anscheinend Wunderbare weiter
hinaus. Die übrigen Disciplinen sind allerdings von der Mathematik nicht
in dem Maße durchdrungen, wie die genannten, aber auch sie verdanken ihre
Fortschritte einer vortrefflichen und bewährten Methode, welche erst seit etwa
SS Jahren sich ausgebildet hat. Einestheils sind nämlich alle unbestimmten
Redensarten (wie Lebenskraft, dynamische Wirkungen u. tgi.) ausgemerzt und
an ihre Stelle das Wort „unbekannt" gesetzt (was unserm Verfasser auch nicht
gefällt S. 64), dadurch also das Erkannte von dem noch zu Erkennenden ge¬
schieden, anderntheils betrachtet man, um Täuschungen über das sinnlich Wahr¬
genommene zu entgehen, keine Beobachtung als wahr, bevor sie — von allen
Beobachtern bestätigt worden ist, so daß sich Streitigkeiten darüber, ehe ein
sicheres Resultat gewonnen wird, oft jahrelang hinziehen. Davon hat unser
Verfasser gar keinen Begriff, er hält Neichenbachs Oddynamid „auf das
reichlichste" durch Experimente bewiesen, während dieser als einziger Beobachter
mit allen andern Naturforschern in Widerspruch steht. Wenn also auch wirk¬
lich, wie Verfasser behauptet, neun Zehntel unsers Wissens auf Autoritäts¬
glauben beruhten, so würden wir doch nicht den Glauben an die Autorität
gewissenhafter Forschung für geistige Taschenspielereien opfern, welche uns daS
Ob glauben und die Schwere bezweifeln lehren will; noch weniger aber wer¬
den wir das letzte selbst erkannte Zehntel gewissenlos in die allgemeine Be¬
griffsverwirrung hinterdrein werfen. Wo ist die Gewähr, daß der Verfasser
seine sogenannten inneren Thatsachen richtig beobachtet hat, wo seine unbe¬
streitbaren Ariome, wo der Beweis richtiger Folgerungen? Gibt es etwa im
Glauben eine nothwendige Uebereinstimmung oder sehen wir nicht vielmehr,
daß fast jeder Mensch den seinigen festhält ohne einem andern die Nichtigkeit
desselben nachweisen zu können? Nein, wenn der Glaube nichts Anderes sein
soll, als subjektives Meinen und ein Nachbeten eingelernter Sätze, wenn ein
protestantischer Geistlicher über unser höchstes geistiges Gut nichts Anderes zu
sagen weiß, als daß der Auioritätsglaube, eine fromme Gemüthsbeschaffenheit
und eine (vieldeutige) fortwährende Präsenz Christi ihn ausmache, dann muß
ein Laie sich berechtigt halten, das wahre Wesen des Glaubens gegen den
frommen Theologen zu vertheidigen!

Glauben und Wissen erscheinen zunächst als Resultate zweier entgegen¬
gesetzter, in ihrem Ausgangs- und Endpunkte aber identischer Seelenthätig-


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[0184] Verfassung, wegzuradircn räthlich findet. Was namentlich die newlonschen Anziehungsgesetze betrifft, so hat neuerdings die Berechnung des Neptun durch Leverrier sie in einer so glänzenden Weise bestätigt, daß wenig Aussicht sie zu widerlegen bleibt; wer es dennoch vermöchte, der würde als zweiter Newton verehrt werden, denn in den mathematischen Wissenschaften enthält jede Wider¬ legung zugleich eine tiefere positive Erkenntniß; jede „Revision" lehrt Uner¬ kanntes begreisen und rückt das Unbegreifliche, anscheinend Wunderbare weiter hinaus. Die übrigen Disciplinen sind allerdings von der Mathematik nicht in dem Maße durchdrungen, wie die genannten, aber auch sie verdanken ihre Fortschritte einer vortrefflichen und bewährten Methode, welche erst seit etwa SS Jahren sich ausgebildet hat. Einestheils sind nämlich alle unbestimmten Redensarten (wie Lebenskraft, dynamische Wirkungen u. tgi.) ausgemerzt und an ihre Stelle das Wort „unbekannt" gesetzt (was unserm Verfasser auch nicht gefällt S. 64), dadurch also das Erkannte von dem noch zu Erkennenden ge¬ schieden, anderntheils betrachtet man, um Täuschungen über das sinnlich Wahr¬ genommene zu entgehen, keine Beobachtung als wahr, bevor sie — von allen Beobachtern bestätigt worden ist, so daß sich Streitigkeiten darüber, ehe ein sicheres Resultat gewonnen wird, oft jahrelang hinziehen. Davon hat unser Verfasser gar keinen Begriff, er hält Neichenbachs Oddynamid „auf das reichlichste" durch Experimente bewiesen, während dieser als einziger Beobachter mit allen andern Naturforschern in Widerspruch steht. Wenn also auch wirk¬ lich, wie Verfasser behauptet, neun Zehntel unsers Wissens auf Autoritäts¬ glauben beruhten, so würden wir doch nicht den Glauben an die Autorität gewissenhafter Forschung für geistige Taschenspielereien opfern, welche uns daS Ob glauben und die Schwere bezweifeln lehren will; noch weniger aber wer¬ den wir das letzte selbst erkannte Zehntel gewissenlos in die allgemeine Be¬ griffsverwirrung hinterdrein werfen. Wo ist die Gewähr, daß der Verfasser seine sogenannten inneren Thatsachen richtig beobachtet hat, wo seine unbe¬ streitbaren Ariome, wo der Beweis richtiger Folgerungen? Gibt es etwa im Glauben eine nothwendige Uebereinstimmung oder sehen wir nicht vielmehr, daß fast jeder Mensch den seinigen festhält ohne einem andern die Nichtigkeit desselben nachweisen zu können? Nein, wenn der Glaube nichts Anderes sein soll, als subjektives Meinen und ein Nachbeten eingelernter Sätze, wenn ein protestantischer Geistlicher über unser höchstes geistiges Gut nichts Anderes zu sagen weiß, als daß der Auioritätsglaube, eine fromme Gemüthsbeschaffenheit und eine (vieldeutige) fortwährende Präsenz Christi ihn ausmache, dann muß ein Laie sich berechtigt halten, das wahre Wesen des Glaubens gegen den frommen Theologen zu vertheidigen! Glauben und Wissen erscheinen zunächst als Resultate zweier entgegen¬ gesetzter, in ihrem Ausgangs- und Endpunkte aber identischer Seelenthätig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/184>, abgerufen am 23.07.2024.