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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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letzteren als einer gewissen Thatsache inne geworden zu sein, weil alle Erkennt¬
niß auf Erfahrung beruhe und die Vernunft nur erfahrener Thatsachen denkend
sich bemächtigen, sonst nur leugnen könne. Wer aber diese innerlichen That¬
sachen erfahren, der würde nur lachen können, wenn ihm jemand dieselben ab¬
streiten wolle, wie auch der Naturforscher sich seine Erfahrungen nicht absprechen
lasse. Beim Christenthum endlich handle es sich nicht wesentlich um Dogmen,
sondern um diese innerlichen Erfahrungen und Thatsachen; die eigentliche Sub¬
stanz des christlichen Bewußtseins sei die durch den Glauben vermittelte fort¬
währende Präsenz Christi.

Weil also, lehrt der Verfasser, alles Wissen eitel ist und auf unerweis¬
lichen Voraussetzungen beruht, so kaun man im Grunde glauben oder nicht
glauben, was man Lust hat; er findet demgemäß für gut, sich an seine sub-,
jectiven sogenannten innern Erfahrungen und Thatsachen zu halten. Warum
diese glaubwürdiger sein sollen, als die mittelst der Sinne gewonnenen Kennt¬
nisse, sagt er nicht, schaltet hier also eines seiner unerweislichen Ariome ein.
Wir dagegen sind nicht im Stande, jenen sogenannten Glauben von den Ein¬
bildungen eines Wahnsinnigen zu unterscheiden, denn auch dieser erfährt in
sich sehr bestimmte Thatsachen, er lacht derer, welche sie ihm abstreiten wollen,
er ist im Sinne des Verfassers gläubig bis zum Märtyrerthum, denn nicht
selten opfert er unter bewußter Seelenqual Gott sein Liebstes, seine Kinder,
ja sich selbst, er ist im Stande, um Gott wohlgefällig zu werden, sich selbst
ans Kreuz zu schlagen. Wenn man allgemein jeden Gedanken, welcher mit
der Wirklichkeit in Widerspruch steht, Wahn nennt, so bedroht uns mit dem¬
selben jedes Denken, welches von unenviesenen, willkürlichen Hypothesen aus¬
geht und die Sophisterei des Verfassers, Ariome, die unwiderleglich sind und
keines Beweises bedürfen, mit Hypothesen zu vermengen, für welche keine Be¬
weise zu finden sind, würdigt den Glauben zu einem bloßen subjectiven Meinen
herab, welches den Wahn, ja selbst den Wahnsinn in sich schließen kann.
Wirklich fußen auf dieser Art von Glauben die Schwärmer und die Aber¬
gläubigen, indem sie ihre subjectiven Meinungen höher schätzen, als vernünf¬
tige Erkenntniß der Wirklichkeit und eS ist daher auch die Hinneigung zum
Wunderbaren, welche wir bei unserm Versasser finden, nichts Zufälliges.

Der Begriff, welchen sich derselbe von der'Methode der Naturforschung
macht, ist ein so verkehrter, daß wir diese des Gegensatzes halber mit einigen
Worten erläutern wollen. Der Kern der heutigen Naturwissenschaft ist be¬
kanntlich die Mathematik, die zwar nicht alle Disciplinen, aber grade diejeni¬
gen vollständig beherrscht, welche als Astronomie und Physik dem Wunder¬
glauben am meisten sich widersetzen; wir müssen es dahingestellt sein lassen,
ob der Verfasser auch die Ariome der Mathematik als willkürliche Glaubens¬
sätze zu bezweifeln und ob er das "System" jener Wissenschaften, wie eine


letzteren als einer gewissen Thatsache inne geworden zu sein, weil alle Erkennt¬
niß auf Erfahrung beruhe und die Vernunft nur erfahrener Thatsachen denkend
sich bemächtigen, sonst nur leugnen könne. Wer aber diese innerlichen That¬
sachen erfahren, der würde nur lachen können, wenn ihm jemand dieselben ab¬
streiten wolle, wie auch der Naturforscher sich seine Erfahrungen nicht absprechen
lasse. Beim Christenthum endlich handle es sich nicht wesentlich um Dogmen,
sondern um diese innerlichen Erfahrungen und Thatsachen; die eigentliche Sub¬
stanz des christlichen Bewußtseins sei die durch den Glauben vermittelte fort¬
währende Präsenz Christi.

Weil also, lehrt der Verfasser, alles Wissen eitel ist und auf unerweis¬
lichen Voraussetzungen beruht, so kaun man im Grunde glauben oder nicht
glauben, was man Lust hat; er findet demgemäß für gut, sich an seine sub-,
jectiven sogenannten innern Erfahrungen und Thatsachen zu halten. Warum
diese glaubwürdiger sein sollen, als die mittelst der Sinne gewonnenen Kennt¬
nisse, sagt er nicht, schaltet hier also eines seiner unerweislichen Ariome ein.
Wir dagegen sind nicht im Stande, jenen sogenannten Glauben von den Ein¬
bildungen eines Wahnsinnigen zu unterscheiden, denn auch dieser erfährt in
sich sehr bestimmte Thatsachen, er lacht derer, welche sie ihm abstreiten wollen,
er ist im Sinne des Verfassers gläubig bis zum Märtyrerthum, denn nicht
selten opfert er unter bewußter Seelenqual Gott sein Liebstes, seine Kinder,
ja sich selbst, er ist im Stande, um Gott wohlgefällig zu werden, sich selbst
ans Kreuz zu schlagen. Wenn man allgemein jeden Gedanken, welcher mit
der Wirklichkeit in Widerspruch steht, Wahn nennt, so bedroht uns mit dem¬
selben jedes Denken, welches von unenviesenen, willkürlichen Hypothesen aus¬
geht und die Sophisterei des Verfassers, Ariome, die unwiderleglich sind und
keines Beweises bedürfen, mit Hypothesen zu vermengen, für welche keine Be¬
weise zu finden sind, würdigt den Glauben zu einem bloßen subjectiven Meinen
herab, welches den Wahn, ja selbst den Wahnsinn in sich schließen kann.
Wirklich fußen auf dieser Art von Glauben die Schwärmer und die Aber¬
gläubigen, indem sie ihre subjectiven Meinungen höher schätzen, als vernünf¬
tige Erkenntniß der Wirklichkeit und eS ist daher auch die Hinneigung zum
Wunderbaren, welche wir bei unserm Versasser finden, nichts Zufälliges.

Der Begriff, welchen sich derselbe von der'Methode der Naturforschung
macht, ist ein so verkehrter, daß wir diese des Gegensatzes halber mit einigen
Worten erläutern wollen. Der Kern der heutigen Naturwissenschaft ist be¬
kanntlich die Mathematik, die zwar nicht alle Disciplinen, aber grade diejeni¬
gen vollständig beherrscht, welche als Astronomie und Physik dem Wunder¬
glauben am meisten sich widersetzen; wir müssen es dahingestellt sein lassen,
ob der Verfasser auch die Ariome der Mathematik als willkürliche Glaubens¬
sätze zu bezweifeln und ob er das „System" jener Wissenschaften, wie eine


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[0183] letzteren als einer gewissen Thatsache inne geworden zu sein, weil alle Erkennt¬ niß auf Erfahrung beruhe und die Vernunft nur erfahrener Thatsachen denkend sich bemächtigen, sonst nur leugnen könne. Wer aber diese innerlichen That¬ sachen erfahren, der würde nur lachen können, wenn ihm jemand dieselben ab¬ streiten wolle, wie auch der Naturforscher sich seine Erfahrungen nicht absprechen lasse. Beim Christenthum endlich handle es sich nicht wesentlich um Dogmen, sondern um diese innerlichen Erfahrungen und Thatsachen; die eigentliche Sub¬ stanz des christlichen Bewußtseins sei die durch den Glauben vermittelte fort¬ währende Präsenz Christi. Weil also, lehrt der Verfasser, alles Wissen eitel ist und auf unerweis¬ lichen Voraussetzungen beruht, so kaun man im Grunde glauben oder nicht glauben, was man Lust hat; er findet demgemäß für gut, sich an seine sub-, jectiven sogenannten innern Erfahrungen und Thatsachen zu halten. Warum diese glaubwürdiger sein sollen, als die mittelst der Sinne gewonnenen Kennt¬ nisse, sagt er nicht, schaltet hier also eines seiner unerweislichen Ariome ein. Wir dagegen sind nicht im Stande, jenen sogenannten Glauben von den Ein¬ bildungen eines Wahnsinnigen zu unterscheiden, denn auch dieser erfährt in sich sehr bestimmte Thatsachen, er lacht derer, welche sie ihm abstreiten wollen, er ist im Sinne des Verfassers gläubig bis zum Märtyrerthum, denn nicht selten opfert er unter bewußter Seelenqual Gott sein Liebstes, seine Kinder, ja sich selbst, er ist im Stande, um Gott wohlgefällig zu werden, sich selbst ans Kreuz zu schlagen. Wenn man allgemein jeden Gedanken, welcher mit der Wirklichkeit in Widerspruch steht, Wahn nennt, so bedroht uns mit dem¬ selben jedes Denken, welches von unenviesenen, willkürlichen Hypothesen aus¬ geht und die Sophisterei des Verfassers, Ariome, die unwiderleglich sind und keines Beweises bedürfen, mit Hypothesen zu vermengen, für welche keine Be¬ weise zu finden sind, würdigt den Glauben zu einem bloßen subjectiven Meinen herab, welches den Wahn, ja selbst den Wahnsinn in sich schließen kann. Wirklich fußen auf dieser Art von Glauben die Schwärmer und die Aber¬ gläubigen, indem sie ihre subjectiven Meinungen höher schätzen, als vernünf¬ tige Erkenntniß der Wirklichkeit und eS ist daher auch die Hinneigung zum Wunderbaren, welche wir bei unserm Versasser finden, nichts Zufälliges. Der Begriff, welchen sich derselbe von der'Methode der Naturforschung macht, ist ein so verkehrter, daß wir diese des Gegensatzes halber mit einigen Worten erläutern wollen. Der Kern der heutigen Naturwissenschaft ist be¬ kanntlich die Mathematik, die zwar nicht alle Disciplinen, aber grade diejeni¬ gen vollständig beherrscht, welche als Astronomie und Physik dem Wunder¬ glauben am meisten sich widersetzen; wir müssen es dahingestellt sein lassen, ob der Verfasser auch die Ariome der Mathematik als willkürliche Glaubens¬ sätze zu bezweifeln und ob er das „System" jener Wissenschaften, wie eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/183>, abgerufen am 23.07.2024.