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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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gegangenen Finstensöhnen, an deren Aufsuchung und Erziehung seine Intri¬
ganten alle ihre besten Kräfte verschwenden, und sofort vergißt er seine
Träume von Menschenrecht und Freiheit, heirathet eine Prinzessin und führt
auf seinen Gütern eine Musterwirthschaft ein, was er als Graf von Cesara
auch hätte thun können. Wie Wieland, schwebte auch Jean Paul als höchste
Aufgabe vor, einen edeln Fürsten zu erziehen, wobei er ganz übersah, daß
mit einem edeln Fürsten nicht viel gewonnen ist, wenn ihm ein gesunder
Staat fehlt, daß ein Graf von Cesara oder ein Lord Hvrion in der Welt eine
viel größere Stellung einnehmen, als ein Duodezfürst von Hohenfließ. Ein
wirklicher Großer der Erde, wie er sich seinen Don Gaspard vorstellt, hätte
an so armselige Intriguen seine Zeit nicht verschwendet; er hätte Hohenfließ
nicht zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit gemacht.

Und hier kommen wir auf einen zweiten Uebelstand. Jean Pauls Er¬
findungskraft, reich in der Zusammenstellung kleiner Seelenbewegungen, ist doch
zu dürftig, um eine wirkliche, in großen Zügen aufgefaßte Geschichte zu ent¬
werfen. Wo er es versucht, aus dem innern Leben der Charaktere heraus ein
Schicksal zu entwickeln, bleibt er im Fragment stecken; wo er dagegen die Ge¬
schichte nach künstlerischen Bedürfnissen construirt, spinnt sie sich zu einem sehr
verwickelten Jntriguenspiel aus, welches eine ungeheure Maschinerie an nich¬
tige Zwecke verschwendet und zu dem wahren Inhalt der Menschen kein Ver¬
hältniß hat. Als Zeitgenosse der Romantik strebt er nach dem Räthselhaften,
Wunderbaren, Unbegreiflichen, aber als geborner Rationalist löst er es wieder
ins Natürliche auf. Nichts ist abgeschmackter, als die Maschinerie im Titan
und Hesperus, und hier kann den Dichter nicht einmal die ungesunde Wirk¬
lichkeit entschuldigen.

Diese Zwecklosigkeit der Erfindung wird durch die sittliche Tendenz nicht
gut gemacht: sie ist vorhanden, aber sie ist nicht die Seele des Ganzen.
Um lebhaft zu empfinden, muß der Dichter einen Anlauf nehmen; um die Ein¬
gebungen seiner Willkür gegen jeden Widerspruch sicherzustellen, echauffirt er
sich, und so thun es auch seine Helden. Es ist das die Weise der Kinder,
aber bei Jean Paul geht das Kindesalter über alle Grenzen des Schicklichen
hinaus. Um ein sittliches Problem so gründlich wie es geschehen muß zu
durchvenken, wenn mau überhaupt die Neflerion hineinmischen will, ist der
Dichter zu unruhig und zu zerstreut; er erregt weder das Gefühl des natür¬
lichen Lebens, welches stets so handelt, wie eS handeln muß. noch eines rei¬
sen, durchdachten Princips. Seine Maximen sind nicht überzeugend für den
individuellen Fall und höchst gefährlich in der Anwendung. Wenn er in jenen
Jahren eine Apologie der Charlotte Corday schrieb, so wußte später bei der
Ermordung Kotzebues de Wette diese Stelle zur Vertheidigung Sands aus¬
zubeuten, und ganz mit Recht, denn ein solches Verbrechen der Reflerion


Grenze, oder. lit. -I8"3, ,!A

gegangenen Finstensöhnen, an deren Aufsuchung und Erziehung seine Intri¬
ganten alle ihre besten Kräfte verschwenden, und sofort vergißt er seine
Träume von Menschenrecht und Freiheit, heirathet eine Prinzessin und führt
auf seinen Gütern eine Musterwirthschaft ein, was er als Graf von Cesara
auch hätte thun können. Wie Wieland, schwebte auch Jean Paul als höchste
Aufgabe vor, einen edeln Fürsten zu erziehen, wobei er ganz übersah, daß
mit einem edeln Fürsten nicht viel gewonnen ist, wenn ihm ein gesunder
Staat fehlt, daß ein Graf von Cesara oder ein Lord Hvrion in der Welt eine
viel größere Stellung einnehmen, als ein Duodezfürst von Hohenfließ. Ein
wirklicher Großer der Erde, wie er sich seinen Don Gaspard vorstellt, hätte
an so armselige Intriguen seine Zeit nicht verschwendet; er hätte Hohenfließ
nicht zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit gemacht.

Und hier kommen wir auf einen zweiten Uebelstand. Jean Pauls Er¬
findungskraft, reich in der Zusammenstellung kleiner Seelenbewegungen, ist doch
zu dürftig, um eine wirkliche, in großen Zügen aufgefaßte Geschichte zu ent¬
werfen. Wo er es versucht, aus dem innern Leben der Charaktere heraus ein
Schicksal zu entwickeln, bleibt er im Fragment stecken; wo er dagegen die Ge¬
schichte nach künstlerischen Bedürfnissen construirt, spinnt sie sich zu einem sehr
verwickelten Jntriguenspiel aus, welches eine ungeheure Maschinerie an nich¬
tige Zwecke verschwendet und zu dem wahren Inhalt der Menschen kein Ver¬
hältniß hat. Als Zeitgenosse der Romantik strebt er nach dem Räthselhaften,
Wunderbaren, Unbegreiflichen, aber als geborner Rationalist löst er es wieder
ins Natürliche auf. Nichts ist abgeschmackter, als die Maschinerie im Titan
und Hesperus, und hier kann den Dichter nicht einmal die ungesunde Wirk¬
lichkeit entschuldigen.

Diese Zwecklosigkeit der Erfindung wird durch die sittliche Tendenz nicht
gut gemacht: sie ist vorhanden, aber sie ist nicht die Seele des Ganzen.
Um lebhaft zu empfinden, muß der Dichter einen Anlauf nehmen; um die Ein¬
gebungen seiner Willkür gegen jeden Widerspruch sicherzustellen, echauffirt er
sich, und so thun es auch seine Helden. Es ist das die Weise der Kinder,
aber bei Jean Paul geht das Kindesalter über alle Grenzen des Schicklichen
hinaus. Um ein sittliches Problem so gründlich wie es geschehen muß zu
durchvenken, wenn mau überhaupt die Neflerion hineinmischen will, ist der
Dichter zu unruhig und zu zerstreut; er erregt weder das Gefühl des natür¬
lichen Lebens, welches stets so handelt, wie eS handeln muß. noch eines rei¬
sen, durchdachten Princips. Seine Maximen sind nicht überzeugend für den
individuellen Fall und höchst gefährlich in der Anwendung. Wenn er in jenen
Jahren eine Apologie der Charlotte Corday schrieb, so wußte später bei der
Ermordung Kotzebues de Wette diese Stelle zur Vertheidigung Sands aus¬
zubeuten, und ganz mit Recht, denn ein solches Verbrechen der Reflerion


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[0097] gegangenen Finstensöhnen, an deren Aufsuchung und Erziehung seine Intri¬ ganten alle ihre besten Kräfte verschwenden, und sofort vergißt er seine Träume von Menschenrecht und Freiheit, heirathet eine Prinzessin und führt auf seinen Gütern eine Musterwirthschaft ein, was er als Graf von Cesara auch hätte thun können. Wie Wieland, schwebte auch Jean Paul als höchste Aufgabe vor, einen edeln Fürsten zu erziehen, wobei er ganz übersah, daß mit einem edeln Fürsten nicht viel gewonnen ist, wenn ihm ein gesunder Staat fehlt, daß ein Graf von Cesara oder ein Lord Hvrion in der Welt eine viel größere Stellung einnehmen, als ein Duodezfürst von Hohenfließ. Ein wirklicher Großer der Erde, wie er sich seinen Don Gaspard vorstellt, hätte an so armselige Intriguen seine Zeit nicht verschwendet; er hätte Hohenfließ nicht zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit gemacht. Und hier kommen wir auf einen zweiten Uebelstand. Jean Pauls Er¬ findungskraft, reich in der Zusammenstellung kleiner Seelenbewegungen, ist doch zu dürftig, um eine wirkliche, in großen Zügen aufgefaßte Geschichte zu ent¬ werfen. Wo er es versucht, aus dem innern Leben der Charaktere heraus ein Schicksal zu entwickeln, bleibt er im Fragment stecken; wo er dagegen die Ge¬ schichte nach künstlerischen Bedürfnissen construirt, spinnt sie sich zu einem sehr verwickelten Jntriguenspiel aus, welches eine ungeheure Maschinerie an nich¬ tige Zwecke verschwendet und zu dem wahren Inhalt der Menschen kein Ver¬ hältniß hat. Als Zeitgenosse der Romantik strebt er nach dem Räthselhaften, Wunderbaren, Unbegreiflichen, aber als geborner Rationalist löst er es wieder ins Natürliche auf. Nichts ist abgeschmackter, als die Maschinerie im Titan und Hesperus, und hier kann den Dichter nicht einmal die ungesunde Wirk¬ lichkeit entschuldigen. Diese Zwecklosigkeit der Erfindung wird durch die sittliche Tendenz nicht gut gemacht: sie ist vorhanden, aber sie ist nicht die Seele des Ganzen. Um lebhaft zu empfinden, muß der Dichter einen Anlauf nehmen; um die Ein¬ gebungen seiner Willkür gegen jeden Widerspruch sicherzustellen, echauffirt er sich, und so thun es auch seine Helden. Es ist das die Weise der Kinder, aber bei Jean Paul geht das Kindesalter über alle Grenzen des Schicklichen hinaus. Um ein sittliches Problem so gründlich wie es geschehen muß zu durchvenken, wenn mau überhaupt die Neflerion hineinmischen will, ist der Dichter zu unruhig und zu zerstreut; er erregt weder das Gefühl des natür¬ lichen Lebens, welches stets so handelt, wie eS handeln muß. noch eines rei¬ sen, durchdachten Princips. Seine Maximen sind nicht überzeugend für den individuellen Fall und höchst gefährlich in der Anwendung. Wenn er in jenen Jahren eine Apologie der Charlotte Corday schrieb, so wußte später bei der Ermordung Kotzebues de Wette diese Stelle zur Vertheidigung Sands aus¬ zubeuten, und ganz mit Recht, denn ein solches Verbrechen der Reflerion Grenze, oder. lit. -I8»3, ,!A

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/97>, abgerufen am 22.07.2024.