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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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seiner Hand und untergräbt die Macht deS hohen Adels, dessen Vorfahren
den seinigen fast gleichstanden. "Die alten russischen Familien", sagt Harrison,
"sind fast alle aus der Gesellschaft verschwunden und die reichen Leute von
heute entstammen der Classe der Regierungsbeamten."

Die innern Zustände eines Landes wie Nußlanv müssen seinen Nachbarn
immer ein Gegenstand des Interesses sein, das manchmal sogar den Charakter
der Besorgniß angenommen hat. Seit Peter dem Großen hat die Regierung
eine stetige Neigung gezeigt, ihre Macht zu erweitern und ihre Functionen zu
vervielfältigen. Die Keime des Fortschritts, die selbst in den niedrigsten Formen
der Gesellschaft vorhanden sind und die unter dem Einfluß eines unbehinderten
Handelsverkehrs mit dem civilisirten Europa in Rußland wie anderwärts eine
freie Municipalverfassung und durch sie einen vernünftigen Geist der Freiheit
ins Dasein gerufen haben würden, wurden anfangs unnatürlich gezeitigt und
sind jetzt auf dem besten Wege ganz erstickt zu werden. Nikolaus führte keinen
erbittertem Krieg gegen Zeitungen, als Peter gegen die altrussischen Bärte;
und der russische Edelmann von heute gibt ebenso ungern die Aussicht auf
den Genuß der Verfeinerungen von Paris aus, wie sein Urgroßvater die rohen
Sitten, das Branntweintrinken und das Barbarenthum, in welchem er seine
Jugend verlebte. Aber es ist gefährlich, ein ganzes Volk an das Gängelbanv
zu nehmen, um es zu civilisiren; gefährlich für den Staat, wenn der eiserne
Griff des Herrn nachläßt, gefährlich für andere Staaten, wenn es nicht ge¬
schieht. Wie sich die Beziehungen zu den Nachbarstaaten vervielfältigen, der
Reichthum zunimmt und neue Gedanken und Begriffe in die vorher bewegungs¬
lose Masse verpflanzt werden, nimmt die Gefahr zu und der Regent muß end¬
lich wählen, ob er seinen Unterthanen aufrichtiges oder gar kein Vertrauen
schenken will; ob er die moralische Bürgschaft treuer Herzen und aufgeklärter
Köpfe oder die materielle Bürgschaft unverantwortlicher Beamten und einer
geheimen Polizei haben will. Der vorige Zar erkannte das Dilemma klar
und traf die Wahl, welche seinem feurigen Charakter am meisten entsprach-
Er fürchtete sich davor, sein Volk wohlhabend und glücklich werden zu lassen,
scheute aber nicht zurück, mit eigner Hand alles im Inlands und im Aus¬
lande zu erdrücken, was dazu hätte führen können. In einem solchen Falle
ist eine Agressivpolitik gegen das Ausland eine fast nothwendige Ergänzung
einer Politik des Mißtrauens im Innern; und selbst wenn Fürst Menschikoff
nie in Konstantinopel aufgetreten wäre, so hätte doch der Kampf zwischen dem
Zaren und dem civilistrten Europa nicht viel länger Aufschub gelitten. An
dem Ausgange dieses Kampfes zu zweifeln, hieße an der Sache des Fortschritts
der Menschheit zweifeln. Vor den Opfern und Entbehrungen zurückzuschrecken,
welche dieser Kampf verlangt, hieße mit der Bezahlung der Versicherung gegen
eine Feuersbrunst geizen, welche alles, waS einem sittlich gebildeten Menschen


seiner Hand und untergräbt die Macht deS hohen Adels, dessen Vorfahren
den seinigen fast gleichstanden. „Die alten russischen Familien", sagt Harrison,
„sind fast alle aus der Gesellschaft verschwunden und die reichen Leute von
heute entstammen der Classe der Regierungsbeamten."

Die innern Zustände eines Landes wie Nußlanv müssen seinen Nachbarn
immer ein Gegenstand des Interesses sein, das manchmal sogar den Charakter
der Besorgniß angenommen hat. Seit Peter dem Großen hat die Regierung
eine stetige Neigung gezeigt, ihre Macht zu erweitern und ihre Functionen zu
vervielfältigen. Die Keime des Fortschritts, die selbst in den niedrigsten Formen
der Gesellschaft vorhanden sind und die unter dem Einfluß eines unbehinderten
Handelsverkehrs mit dem civilisirten Europa in Rußland wie anderwärts eine
freie Municipalverfassung und durch sie einen vernünftigen Geist der Freiheit
ins Dasein gerufen haben würden, wurden anfangs unnatürlich gezeitigt und
sind jetzt auf dem besten Wege ganz erstickt zu werden. Nikolaus führte keinen
erbittertem Krieg gegen Zeitungen, als Peter gegen die altrussischen Bärte;
und der russische Edelmann von heute gibt ebenso ungern die Aussicht auf
den Genuß der Verfeinerungen von Paris aus, wie sein Urgroßvater die rohen
Sitten, das Branntweintrinken und das Barbarenthum, in welchem er seine
Jugend verlebte. Aber es ist gefährlich, ein ganzes Volk an das Gängelbanv
zu nehmen, um es zu civilisiren; gefährlich für den Staat, wenn der eiserne
Griff des Herrn nachläßt, gefährlich für andere Staaten, wenn es nicht ge¬
schieht. Wie sich die Beziehungen zu den Nachbarstaaten vervielfältigen, der
Reichthum zunimmt und neue Gedanken und Begriffe in die vorher bewegungs¬
lose Masse verpflanzt werden, nimmt die Gefahr zu und der Regent muß end¬
lich wählen, ob er seinen Unterthanen aufrichtiges oder gar kein Vertrauen
schenken will; ob er die moralische Bürgschaft treuer Herzen und aufgeklärter
Köpfe oder die materielle Bürgschaft unverantwortlicher Beamten und einer
geheimen Polizei haben will. Der vorige Zar erkannte das Dilemma klar
und traf die Wahl, welche seinem feurigen Charakter am meisten entsprach-
Er fürchtete sich davor, sein Volk wohlhabend und glücklich werden zu lassen,
scheute aber nicht zurück, mit eigner Hand alles im Inlands und im Aus¬
lande zu erdrücken, was dazu hätte führen können. In einem solchen Falle
ist eine Agressivpolitik gegen das Ausland eine fast nothwendige Ergänzung
einer Politik des Mißtrauens im Innern; und selbst wenn Fürst Menschikoff
nie in Konstantinopel aufgetreten wäre, so hätte doch der Kampf zwischen dem
Zaren und dem civilistrten Europa nicht viel länger Aufschub gelitten. An
dem Ausgange dieses Kampfes zu zweifeln, hieße an der Sache des Fortschritts
der Menschheit zweifeln. Vor den Opfern und Entbehrungen zurückzuschrecken,
welche dieser Kampf verlangt, hieße mit der Bezahlung der Versicherung gegen
eine Feuersbrunst geizen, welche alles, waS einem sittlich gebildeten Menschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/478>, abgerufen am 22.12.2024.