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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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noth geben würde, solange es anderwärts überfüllte Märkte gibt, nothwendig
ist. Aber was wird aus diesen Nothmagazinen, wenn, wie jetzt, jeder Nerv
angestrengt wird, um den drängenden Bedürfnissen einer Armee im Felde ab¬
zuhelfen -- wenn der Ackersmann mit seinem Wagen und Ochsen der Acker-
arbeit entrissen wird, um auf den schlechtesten Wegen und in der schlechtesten
Jahreszeit Proviant und KriegSvorräthe Hunderte von Meilen zu transportiren?
Wieviel mag es kosten, um Sebastopol über die dazwischenliegenden Steppen durch
Hilfe von schwerfälligen Ochsenkarren, die nicht zwei deutsche Meilen täglich
zurücklegen, zu versorgen, wenn der durchschnittliche Preis von einer Tonnen¬
last Frachtgut in gewöhnlichen Zeiten nach Tengoborski mehr beträgt, als das
Fahrgeld für zwei Passagiere zweiter Classe auf einer englischen Eisenbahn, die
zwanzigmal so schnell befördert?

Die Vertheilung der Leibeignen unter die verschiedenen Classen Eigen¬
thümer ist eine interessante Frage, von der man im Auslande im Grunde
äußerst wenig weiß. Wir denken uns meistens den russischen Grundbesitzer
als eine Person von ungeheuern Hilfsquellen, wenn er sie nur flüssig machen
könnte. Dies paßt jedoch allenfalls nur auf die Magnaten, denen man in
den Salons Westeuropas begegnet. Sie bilden aber nur die glänzende Aus¬
nahme von einer im Ganzen nur mittelmäßig begüterten Aristokratie. Tengo¬
borski gibt uns darüber einige merkwürdige Aufschlüsse in einer nach officiellen
Angaben entworfenen Tabelle, welche die Grundbesitzer von 46 Gouvernements
nach der Zahl ihrer Leibeignen classificirt. Allerdings rührt die Tabelle von
1834 her, aber das Verhältniß kann sich seit jener Zeit nur höchst unbedeu¬
tend geändert haben. Nach dieser Tabelle gehörten von einer männlichen leib¬
eignen Bevölkerung von 10,704,378 Köpfen 3,536,939 1454 Grundbesitzern,
so daß im Durchschnitt 2448 Leibigne auf jeden kamen; 1,562,831 Köpfe
auf 2273, im Durchschnitt ungefähr 688; 3,634,134 gehörten 16,740 Grund¬
besitzern oder durchschnittlich 217; 2,300,337 Köpfe 30,417 Grundbesitzern oder
im Durchschnitt 49; und 430,037 waren auf 58,437 Grundherren vertheilt,
so daß von diesen jeder durchschnittlich nur 8 Leibeigne besaß.

Die erste dieser Classen, unter der sich die reichste Aristokratie Rußlands
befindet, besteht aus den Grundbesitzern, die nicht weniger als 1000 Bauern
besitzen; die zweite darf nicht weniger als 500, die dritte nicht weniger als
100, die vierte nicht weniger als 20 Bauern ihr Eigenthum nennen und ti^
fünfte und letzte Classe umschließt den Nest der ganz kleinen Besitzer. Daraus
geht also hervor, daß von sämmtlichen Grundbesitzern der in der Tabelle aus¬
geführten 46 Gouvernements nur 3727, oder weniger als 4 "><,, mehr als 500
Leibeigne haben. Den Nettoertrag von der Frohnarbeit eines Leibeignen
kann man aber selbst in Friedenszeiten auf nicht höher als 11 Thaler jährlich
anschlagen. Pallas führt einen Ertrag von 12 Silberrubeln als etwas ganz


noth geben würde, solange es anderwärts überfüllte Märkte gibt, nothwendig
ist. Aber was wird aus diesen Nothmagazinen, wenn, wie jetzt, jeder Nerv
angestrengt wird, um den drängenden Bedürfnissen einer Armee im Felde ab¬
zuhelfen — wenn der Ackersmann mit seinem Wagen und Ochsen der Acker-
arbeit entrissen wird, um auf den schlechtesten Wegen und in der schlechtesten
Jahreszeit Proviant und KriegSvorräthe Hunderte von Meilen zu transportiren?
Wieviel mag es kosten, um Sebastopol über die dazwischenliegenden Steppen durch
Hilfe von schwerfälligen Ochsenkarren, die nicht zwei deutsche Meilen täglich
zurücklegen, zu versorgen, wenn der durchschnittliche Preis von einer Tonnen¬
last Frachtgut in gewöhnlichen Zeiten nach Tengoborski mehr beträgt, als das
Fahrgeld für zwei Passagiere zweiter Classe auf einer englischen Eisenbahn, die
zwanzigmal so schnell befördert?

Die Vertheilung der Leibeignen unter die verschiedenen Classen Eigen¬
thümer ist eine interessante Frage, von der man im Auslande im Grunde
äußerst wenig weiß. Wir denken uns meistens den russischen Grundbesitzer
als eine Person von ungeheuern Hilfsquellen, wenn er sie nur flüssig machen
könnte. Dies paßt jedoch allenfalls nur auf die Magnaten, denen man in
den Salons Westeuropas begegnet. Sie bilden aber nur die glänzende Aus¬
nahme von einer im Ganzen nur mittelmäßig begüterten Aristokratie. Tengo¬
borski gibt uns darüber einige merkwürdige Aufschlüsse in einer nach officiellen
Angaben entworfenen Tabelle, welche die Grundbesitzer von 46 Gouvernements
nach der Zahl ihrer Leibeignen classificirt. Allerdings rührt die Tabelle von
1834 her, aber das Verhältniß kann sich seit jener Zeit nur höchst unbedeu¬
tend geändert haben. Nach dieser Tabelle gehörten von einer männlichen leib¬
eignen Bevölkerung von 10,704,378 Köpfen 3,536,939 1454 Grundbesitzern,
so daß im Durchschnitt 2448 Leibigne auf jeden kamen; 1,562,831 Köpfe
auf 2273, im Durchschnitt ungefähr 688; 3,634,134 gehörten 16,740 Grund¬
besitzern oder durchschnittlich 217; 2,300,337 Köpfe 30,417 Grundbesitzern oder
im Durchschnitt 49; und 430,037 waren auf 58,437 Grundherren vertheilt,
so daß von diesen jeder durchschnittlich nur 8 Leibeigne besaß.

Die erste dieser Classen, unter der sich die reichste Aristokratie Rußlands
befindet, besteht aus den Grundbesitzern, die nicht weniger als 1000 Bauern
besitzen; die zweite darf nicht weniger als 500, die dritte nicht weniger als
100, die vierte nicht weniger als 20 Bauern ihr Eigenthum nennen und ti^
fünfte und letzte Classe umschließt den Nest der ganz kleinen Besitzer. Daraus
geht also hervor, daß von sämmtlichen Grundbesitzern der in der Tabelle aus¬
geführten 46 Gouvernements nur 3727, oder weniger als 4 "><,, mehr als 500
Leibeigne haben. Den Nettoertrag von der Frohnarbeit eines Leibeignen
kann man aber selbst in Friedenszeiten auf nicht höher als 11 Thaler jährlich
anschlagen. Pallas führt einen Ertrag von 12 Silberrubeln als etwas ganz


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[0476] noth geben würde, solange es anderwärts überfüllte Märkte gibt, nothwendig ist. Aber was wird aus diesen Nothmagazinen, wenn, wie jetzt, jeder Nerv angestrengt wird, um den drängenden Bedürfnissen einer Armee im Felde ab¬ zuhelfen — wenn der Ackersmann mit seinem Wagen und Ochsen der Acker- arbeit entrissen wird, um auf den schlechtesten Wegen und in der schlechtesten Jahreszeit Proviant und KriegSvorräthe Hunderte von Meilen zu transportiren? Wieviel mag es kosten, um Sebastopol über die dazwischenliegenden Steppen durch Hilfe von schwerfälligen Ochsenkarren, die nicht zwei deutsche Meilen täglich zurücklegen, zu versorgen, wenn der durchschnittliche Preis von einer Tonnen¬ last Frachtgut in gewöhnlichen Zeiten nach Tengoborski mehr beträgt, als das Fahrgeld für zwei Passagiere zweiter Classe auf einer englischen Eisenbahn, die zwanzigmal so schnell befördert? Die Vertheilung der Leibeignen unter die verschiedenen Classen Eigen¬ thümer ist eine interessante Frage, von der man im Auslande im Grunde äußerst wenig weiß. Wir denken uns meistens den russischen Grundbesitzer als eine Person von ungeheuern Hilfsquellen, wenn er sie nur flüssig machen könnte. Dies paßt jedoch allenfalls nur auf die Magnaten, denen man in den Salons Westeuropas begegnet. Sie bilden aber nur die glänzende Aus¬ nahme von einer im Ganzen nur mittelmäßig begüterten Aristokratie. Tengo¬ borski gibt uns darüber einige merkwürdige Aufschlüsse in einer nach officiellen Angaben entworfenen Tabelle, welche die Grundbesitzer von 46 Gouvernements nach der Zahl ihrer Leibeignen classificirt. Allerdings rührt die Tabelle von 1834 her, aber das Verhältniß kann sich seit jener Zeit nur höchst unbedeu¬ tend geändert haben. Nach dieser Tabelle gehörten von einer männlichen leib¬ eignen Bevölkerung von 10,704,378 Köpfen 3,536,939 1454 Grundbesitzern, so daß im Durchschnitt 2448 Leibigne auf jeden kamen; 1,562,831 Köpfe auf 2273, im Durchschnitt ungefähr 688; 3,634,134 gehörten 16,740 Grund¬ besitzern oder durchschnittlich 217; 2,300,337 Köpfe 30,417 Grundbesitzern oder im Durchschnitt 49; und 430,037 waren auf 58,437 Grundherren vertheilt, so daß von diesen jeder durchschnittlich nur 8 Leibeigne besaß. Die erste dieser Classen, unter der sich die reichste Aristokratie Rußlands befindet, besteht aus den Grundbesitzern, die nicht weniger als 1000 Bauern besitzen; die zweite darf nicht weniger als 500, die dritte nicht weniger als 100, die vierte nicht weniger als 20 Bauern ihr Eigenthum nennen und ti^ fünfte und letzte Classe umschließt den Nest der ganz kleinen Besitzer. Daraus geht also hervor, daß von sämmtlichen Grundbesitzern der in der Tabelle aus¬ geführten 46 Gouvernements nur 3727, oder weniger als 4 "><,, mehr als 500 Leibeigne haben. Den Nettoertrag von der Frohnarbeit eines Leibeignen kann man aber selbst in Friedenszeiten auf nicht höher als 11 Thaler jährlich anschlagen. Pallas führt einen Ertrag von 12 Silberrubeln als etwas ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/476>, abgerufen am 22.07.2024.