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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Scheremetjeff, der sich mit einem Obrok (Entschädigung für den Frohndienst)
von wenigen Rubeln begnügt, aber um keinen Preis einem derselben seine
Freiheit geben will. Er ist stolz, so reiche Leibeigne zu besitzen, über die er
eine Macht ausübt, deren Ausübung, wenn jemals die Ideen des Westens
in Rußland über die Oberfläche eindringen sollten, das ganze sociale Gebäude
über den Haufen werfen muß. Die Se. Petersburger Millionäre sind ihrer
Geburt nach bloße Bauern und immer noch verpflichtet, auf den Gütern ihres
Herrn die Troika oder drei Tage Frohnarbeit in jeder Woche zu leisten. Zeigt
ein Bauernknabe besondere Anlagen zu einem Gewerbe, das sich mit Gewinn
in einer Stadt betreiben läßt, so wird er zu einem Meister in die Lehre ge¬
schickt und muß dann sehen, wie er auf eigne Faust durch die Welt kommt.
Wenn es ihm nicht gelingt, so fällt natürlich der Verlust auf den Herrn, der
einen ganz nutzlosen Leibeignen in seinem heimathlichen Dorfe erhalten muß;
kommt er aber fort, so erhält der Grundherr eine gute Entschädigung für seine
erste Kapitalanlage in dem Obrok, dessen Betrag habgierige oder geldbedürs-
tige Herrn mit dem zunehmenden Wohlstand des Leibeignen zu erhöhen pflegen.
Die Maschinerie, durch welche dieses Recht ausgeübt wird, ist interessant, weil
sie eine Einsicht in das ganze politische System Rußlands gewährt. Der Leib¬
eigne muß überall, wo er sich niederläßt, einen Paß von seinem Herrn vor¬
zeigen und dieser Paß muß alljährlich und manchmal alle sechs Monate er¬
neuert werden. Durch Nichtgewährung des Passes kann daher der Grundherr
jederzeit den Leibeignen zwingen, in sein heimathliches Dorf zurückzukehren, und
so sorglich sieht man aus die Aufrechthaltung dieser Macht, daß nicht nur die
Polizeibehörde jeder Stadt verpflichtet ist, darauf zu achten, daß jeder Ein¬
wohner im Besitz der nöthigen Aufenthaltserlaubnis) ist, sondern daß auch jeder
Arbeitsgeber für seine Arbeiter und seine Dienerschaft stehen muß und Sorge
zu tragen hat, daß ihre Püffe in bester Ordnung sind. Sollte ein zukünftiger
Erbe des Grafen Scheremetjeff, entweder um seine Einnahme zu erhöhen oder
aus einem persönlichen Beweggrund oder auch aus bloßer Laune, für gut
finden, von seinem grundherrlichen Rechte Gebrauch zu machen und seinen
reichen Leibeignen in der Hauptstadt die Püffe zu verweigern, so wären sie ge¬
zwungen, ihre schönen Häuser in der Stadt zu verlassen, ihre luxuriöse
Lebensweise aufzugeben und sie mit den elenden Hütten, der mühsamen Feld¬
arbeit auf dem Lande zu vertauschen. Natürlich wird schon Rücksicht auf das
eigne Interesse den Grundherrn von einem solchen äußersten Schritte abhalten;
aber das Pfund Fleisch kann genommen werden, wenn ein Shylock vorhanden
ist, der darauf besteht und es ist klar, daß unter solchen Verhältnissen Geiz
und Tyrannei freies Spiel haben.

Andern Gefahren sind die Leibeignen auf dem Lande ausgesetzt. Die
Hütte, welche sich der Bauer mit Holz aus seines Grundherrn Waldungen


Scheremetjeff, der sich mit einem Obrok (Entschädigung für den Frohndienst)
von wenigen Rubeln begnügt, aber um keinen Preis einem derselben seine
Freiheit geben will. Er ist stolz, so reiche Leibeigne zu besitzen, über die er
eine Macht ausübt, deren Ausübung, wenn jemals die Ideen des Westens
in Rußland über die Oberfläche eindringen sollten, das ganze sociale Gebäude
über den Haufen werfen muß. Die Se. Petersburger Millionäre sind ihrer
Geburt nach bloße Bauern und immer noch verpflichtet, auf den Gütern ihres
Herrn die Troika oder drei Tage Frohnarbeit in jeder Woche zu leisten. Zeigt
ein Bauernknabe besondere Anlagen zu einem Gewerbe, das sich mit Gewinn
in einer Stadt betreiben läßt, so wird er zu einem Meister in die Lehre ge¬
schickt und muß dann sehen, wie er auf eigne Faust durch die Welt kommt.
Wenn es ihm nicht gelingt, so fällt natürlich der Verlust auf den Herrn, der
einen ganz nutzlosen Leibeignen in seinem heimathlichen Dorfe erhalten muß;
kommt er aber fort, so erhält der Grundherr eine gute Entschädigung für seine
erste Kapitalanlage in dem Obrok, dessen Betrag habgierige oder geldbedürs-
tige Herrn mit dem zunehmenden Wohlstand des Leibeignen zu erhöhen pflegen.
Die Maschinerie, durch welche dieses Recht ausgeübt wird, ist interessant, weil
sie eine Einsicht in das ganze politische System Rußlands gewährt. Der Leib¬
eigne muß überall, wo er sich niederläßt, einen Paß von seinem Herrn vor¬
zeigen und dieser Paß muß alljährlich und manchmal alle sechs Monate er¬
neuert werden. Durch Nichtgewährung des Passes kann daher der Grundherr
jederzeit den Leibeignen zwingen, in sein heimathliches Dorf zurückzukehren, und
so sorglich sieht man aus die Aufrechthaltung dieser Macht, daß nicht nur die
Polizeibehörde jeder Stadt verpflichtet ist, darauf zu achten, daß jeder Ein¬
wohner im Besitz der nöthigen Aufenthaltserlaubnis) ist, sondern daß auch jeder
Arbeitsgeber für seine Arbeiter und seine Dienerschaft stehen muß und Sorge
zu tragen hat, daß ihre Püffe in bester Ordnung sind. Sollte ein zukünftiger
Erbe des Grafen Scheremetjeff, entweder um seine Einnahme zu erhöhen oder
aus einem persönlichen Beweggrund oder auch aus bloßer Laune, für gut
finden, von seinem grundherrlichen Rechte Gebrauch zu machen und seinen
reichen Leibeignen in der Hauptstadt die Püffe zu verweigern, so wären sie ge¬
zwungen, ihre schönen Häuser in der Stadt zu verlassen, ihre luxuriöse
Lebensweise aufzugeben und sie mit den elenden Hütten, der mühsamen Feld¬
arbeit auf dem Lande zu vertauschen. Natürlich wird schon Rücksicht auf das
eigne Interesse den Grundherrn von einem solchen äußersten Schritte abhalten;
aber das Pfund Fleisch kann genommen werden, wenn ein Shylock vorhanden
ist, der darauf besteht und es ist klar, daß unter solchen Verhältnissen Geiz
und Tyrannei freies Spiel haben.

Andern Gefahren sind die Leibeignen auf dem Lande ausgesetzt. Die
Hütte, welche sich der Bauer mit Holz aus seines Grundherrn Waldungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/472>, abgerufen am 22.07.2024.