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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Schüler nicht in das Herrenhaus wagten, so wählte man zu dem ersten Ver¬
such eine Hütte und brachte glücklich einige Mädchen zusammen. Als man
soweit war, fand es sich, daß für die Barinnä (Herrin) kein Sitz vorhanden
war, und nach Hinwegräumung dieses Hindernisses blieb zufällig die Thür offen
stehen, so daß die Schweine und Gänse hereinkamen und der Unterrichtsstunde ein
Ende machten -- zur großen Freude der Schülerinnen, die ihre Abneigung
gegen das Lernen auf jede Weise, außer durch offenen Widerstand zu erkennen
gäben. Die Eltern fanden ebensowenig Geschmack an den steinernen Häusern
und vielleicht mit mehr Grund, denn in einem Lande, wo im Winter eine
Durchschnittstemperatur von nur fünf Grad Fahrenheit herrscht, sind die alten
hölzernen Hütten mit ihrem einzigen kleinen Fenster, wo der große Ofen be¬
ständig eine Temperatur von 70 bis 80 Grad erhält, jedenfalls den luftigern,
steinernen Häusern mit ihrer reinern, aber kältern Atmosphäre vorzuziehen.

In Nischnei Nowgorod war der Verfasser zum ersten Mal Zeuge der feier¬
lichen Empfangnahme eines großen Grundbesitzers von einer Deputation seiner
Leibeignen, die ihm entgegenkam. Drei kräftige Bauern in Schafpelzen kamen
>'n den Garten, überreichten ein großes schwarzes Laib Brot und etwas Salz
und gaben der Freude des Dorfes über die Ankunft ihrer Herrschaft Ausdruck.
Sie redeten nicht nur den Herrn und die Herrin, sondern auch die jüngsten
Mitglieder der Familie mit den vertraulichen Benennungen Batuschka und
Matuschka (alter Vater und alte Mutter) an, wie denn überhaupt der russische
Leibeigne mit den größten und häufigsten Demuthsbezeigungen eine große Zu-
tnmlichkeit im Gespräche vereinigt und in der Regel sowenig Lust >zeigt, es
abzubrechen, daß dies meistens der Herr thun muß, indem er ihn mit den
Worten Bog stoboi (Gott sei mit dir) die Hand zum Kuß reicht. Zwischen
Nischnei Nowgorod und Simbirsk kamen die Reisenden durch mehre Dörfer
hintereinander, wo sich überall die Darreichung von Brot und Salz wieder¬
holte. In einem Dorfe fiel die ganze Bevölkerung auf die Knie, bis der Herr
ihnen befahl aufzustehen. Wo das Wasser gut war, brachte man ebenfalls
eine Probe, zuweilen ans 130 Fuß tiefen Brunnen. In einigen dieser Dörfer
waren die Leibeignen Gewerbsleute, waren reich geworden und wohnten in
hübschen Häusern. Es ist überhaupt einer der auffälligsten Züge des russi¬
schen gesellschaftlichen Systems, daß, obgleich ein Leibeigner sich große Reich¬
thümer erwerben kann, er doch nicht, außer durch Militärdienst, zum freien
Manne werden kann, ohne sich von seinem Leibherrn für einen von diesem
willkürlich festzusetzenden Preis loszukaufen; und dieser steigt natürlich in zu
vielen Fällen in demselben Maße, wie bei dem Leibeignen das Verlangen nach
Freiheit. Ein Leibeigner des Gutes hatte seine Freiheit für dreiunddreißig-
wusend Rubel Banknoten erkauft, eine Summe, die er selbst genannt hatte.
Einige der reichsten Kaufleute Se. Petersburgs sind Leibeigne des Grafen


Schüler nicht in das Herrenhaus wagten, so wählte man zu dem ersten Ver¬
such eine Hütte und brachte glücklich einige Mädchen zusammen. Als man
soweit war, fand es sich, daß für die Barinnä (Herrin) kein Sitz vorhanden
war, und nach Hinwegräumung dieses Hindernisses blieb zufällig die Thür offen
stehen, so daß die Schweine und Gänse hereinkamen und der Unterrichtsstunde ein
Ende machten — zur großen Freude der Schülerinnen, die ihre Abneigung
gegen das Lernen auf jede Weise, außer durch offenen Widerstand zu erkennen
gäben. Die Eltern fanden ebensowenig Geschmack an den steinernen Häusern
und vielleicht mit mehr Grund, denn in einem Lande, wo im Winter eine
Durchschnittstemperatur von nur fünf Grad Fahrenheit herrscht, sind die alten
hölzernen Hütten mit ihrem einzigen kleinen Fenster, wo der große Ofen be¬
ständig eine Temperatur von 70 bis 80 Grad erhält, jedenfalls den luftigern,
steinernen Häusern mit ihrer reinern, aber kältern Atmosphäre vorzuziehen.

In Nischnei Nowgorod war der Verfasser zum ersten Mal Zeuge der feier¬
lichen Empfangnahme eines großen Grundbesitzers von einer Deputation seiner
Leibeignen, die ihm entgegenkam. Drei kräftige Bauern in Schafpelzen kamen
>'n den Garten, überreichten ein großes schwarzes Laib Brot und etwas Salz
und gaben der Freude des Dorfes über die Ankunft ihrer Herrschaft Ausdruck.
Sie redeten nicht nur den Herrn und die Herrin, sondern auch die jüngsten
Mitglieder der Familie mit den vertraulichen Benennungen Batuschka und
Matuschka (alter Vater und alte Mutter) an, wie denn überhaupt der russische
Leibeigne mit den größten und häufigsten Demuthsbezeigungen eine große Zu-
tnmlichkeit im Gespräche vereinigt und in der Regel sowenig Lust >zeigt, es
abzubrechen, daß dies meistens der Herr thun muß, indem er ihn mit den
Worten Bog stoboi (Gott sei mit dir) die Hand zum Kuß reicht. Zwischen
Nischnei Nowgorod und Simbirsk kamen die Reisenden durch mehre Dörfer
hintereinander, wo sich überall die Darreichung von Brot und Salz wieder¬
holte. In einem Dorfe fiel die ganze Bevölkerung auf die Knie, bis der Herr
ihnen befahl aufzustehen. Wo das Wasser gut war, brachte man ebenfalls
eine Probe, zuweilen ans 130 Fuß tiefen Brunnen. In einigen dieser Dörfer
waren die Leibeignen Gewerbsleute, waren reich geworden und wohnten in
hübschen Häusern. Es ist überhaupt einer der auffälligsten Züge des russi¬
schen gesellschaftlichen Systems, daß, obgleich ein Leibeigner sich große Reich¬
thümer erwerben kann, er doch nicht, außer durch Militärdienst, zum freien
Manne werden kann, ohne sich von seinem Leibherrn für einen von diesem
willkürlich festzusetzenden Preis loszukaufen; und dieser steigt natürlich in zu
vielen Fällen in demselben Maße, wie bei dem Leibeignen das Verlangen nach
Freiheit. Ein Leibeigner des Gutes hatte seine Freiheit für dreiunddreißig-
wusend Rubel Banknoten erkauft, eine Summe, die er selbst genannt hatte.
Einige der reichsten Kaufleute Se. Petersburgs sind Leibeigne des Grafen


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[0471] Schüler nicht in das Herrenhaus wagten, so wählte man zu dem ersten Ver¬ such eine Hütte und brachte glücklich einige Mädchen zusammen. Als man soweit war, fand es sich, daß für die Barinnä (Herrin) kein Sitz vorhanden war, und nach Hinwegräumung dieses Hindernisses blieb zufällig die Thür offen stehen, so daß die Schweine und Gänse hereinkamen und der Unterrichtsstunde ein Ende machten — zur großen Freude der Schülerinnen, die ihre Abneigung gegen das Lernen auf jede Weise, außer durch offenen Widerstand zu erkennen gäben. Die Eltern fanden ebensowenig Geschmack an den steinernen Häusern und vielleicht mit mehr Grund, denn in einem Lande, wo im Winter eine Durchschnittstemperatur von nur fünf Grad Fahrenheit herrscht, sind die alten hölzernen Hütten mit ihrem einzigen kleinen Fenster, wo der große Ofen be¬ ständig eine Temperatur von 70 bis 80 Grad erhält, jedenfalls den luftigern, steinernen Häusern mit ihrer reinern, aber kältern Atmosphäre vorzuziehen. In Nischnei Nowgorod war der Verfasser zum ersten Mal Zeuge der feier¬ lichen Empfangnahme eines großen Grundbesitzers von einer Deputation seiner Leibeignen, die ihm entgegenkam. Drei kräftige Bauern in Schafpelzen kamen >'n den Garten, überreichten ein großes schwarzes Laib Brot und etwas Salz und gaben der Freude des Dorfes über die Ankunft ihrer Herrschaft Ausdruck. Sie redeten nicht nur den Herrn und die Herrin, sondern auch die jüngsten Mitglieder der Familie mit den vertraulichen Benennungen Batuschka und Matuschka (alter Vater und alte Mutter) an, wie denn überhaupt der russische Leibeigne mit den größten und häufigsten Demuthsbezeigungen eine große Zu- tnmlichkeit im Gespräche vereinigt und in der Regel sowenig Lust >zeigt, es abzubrechen, daß dies meistens der Herr thun muß, indem er ihn mit den Worten Bog stoboi (Gott sei mit dir) die Hand zum Kuß reicht. Zwischen Nischnei Nowgorod und Simbirsk kamen die Reisenden durch mehre Dörfer hintereinander, wo sich überall die Darreichung von Brot und Salz wieder¬ holte. In einem Dorfe fiel die ganze Bevölkerung auf die Knie, bis der Herr ihnen befahl aufzustehen. Wo das Wasser gut war, brachte man ebenfalls eine Probe, zuweilen ans 130 Fuß tiefen Brunnen. In einigen dieser Dörfer waren die Leibeignen Gewerbsleute, waren reich geworden und wohnten in hübschen Häusern. Es ist überhaupt einer der auffälligsten Züge des russi¬ schen gesellschaftlichen Systems, daß, obgleich ein Leibeigner sich große Reich¬ thümer erwerben kann, er doch nicht, außer durch Militärdienst, zum freien Manne werden kann, ohne sich von seinem Leibherrn für einen von diesem willkürlich festzusetzenden Preis loszukaufen; und dieser steigt natürlich in zu vielen Fällen in demselben Maße, wie bei dem Leibeignen das Verlangen nach Freiheit. Ein Leibeigner des Gutes hatte seine Freiheit für dreiunddreißig- wusend Rubel Banknoten erkauft, eine Summe, die er selbst genannt hatte. Einige der reichsten Kaufleute Se. Petersburgs sind Leibeigne des Grafen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/471>, abgerufen am 22.12.2024.