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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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aus der Erzählung zur Reflexion überzugehen, so möge er die persönliche Ver¬
antwortung dafür übernehmen. Freilich wird es für seinen Zweck am besten
sein, wenn er diese Lage soviel als lmöglich vermeidet, und wo es irgend
gehen will, die Thatsachen sprechen läßt. -- Wir werden bei der Analyse
des Einzelnen mehrfach Gelegenheit haben, auf diese allgemein hingestellten
Einwürfe zurückzukommen.

Der erste Band zerfällt in vier Abschnitte: die Restauration der Bour-
bonen, den wiener Kongreß, die Uebersicht der literarischen Bewegungen und
die östreichischen Zustände bis 1820.

Der erste Theil ist schon vielfältig behandelt worden, vorzugsweise freilich
von französischen Geschichtschreibern, aber auch von deutschen, und im Grunde
ist die richtige Ansicht über diese Begebenheiten soweit festgestellt, daß nicht viel
Neues hinzugefügt werden kann, umsoweniger, wenn man über keine neuen
Quellen disponirt. Trotzdem war dieser Eingang nicht zu ^vermeiden und
Gervinus bringt durch einzelne seiner Reflexionen eine große Befriedigung
hervor. So ist es sehr gut, daß er die Restauration nicht aus zufälligen
kleinen Intriguen ableitet, sondern aus der innern Nothwendigkeit. Es ist
höchst erfreulich, daß er gesinnungslose Intriguanten, wie Talleyrand und Fouchs,
deren unzweifelhafte Talente so manchen weichmüthigen Schriftsteller verführt
haben, mit souveräner Verachtung abfertigt. Freilich ist es nicht geschickt,
daß er einen Tadel gegen die restaurirte Dynastie damit verbindet, weil sie sich
solcher Werkzeuge bedient habe. Wenn Männer, wie Chateaubriand und La¬
martine einen ähnlichen Vorwurf erheben, so verbinden sie damit einen be¬
stimmten Hintergedanken; sie wollen das Ruder des Staats reinen d. h. roya-
ü'heischen Händen anvertrauen. Gervinus ist aber dieser Ansicht keineswegs,
und sein Wunsch, die Regierung ehrlichen und einsichtsvollen Männern an¬
vertraut zu sehen, ist zu allgemein gehalten, um schwer in die Wagschale zu
fallen. Wenn ein neues Herrscherhaus in fertige Zustände eingeführt wird,
so muß es nothgedrungen zunächst versuchen, sich mit den bisherigen Macht¬
habern abzufinden, bis es soweit orientirt und der Situation Herr geworden
ist, um diese beseitigen zu können. Die Machthaber der damaligen Zeit waren
aber unzweifelhaft die Marschälle, Senatoren und Diplomaten des Kaiserreichs.
Sie waren für die erste Periode der Restauration unvermeidlich; übrigens hat
man sie früh genug bei Seite geschafft.-- Noch in einem andern Punkt müssen
wir die Restauration in Schutz nehmen. In neuerer Zeit ist das Stichwort
der Legitimität so vielfach ausgebeutet worden, daß man eine gerechte Ab¬
neigung dagegen hat; aber um unbefangen zu urtheilen, muß man sich doch in
die Lage der Betheiligten versetzen. Wenn Ludwig XVIII. darauf bestand, die.
Krone nicht als ein Geschenk des Volkes oder gar des Senats, sondern kraft
des Grundsatzes zu nehmen, daß die Krone nicht stirbt; wenn er erklärte, daß


aus der Erzählung zur Reflexion überzugehen, so möge er die persönliche Ver¬
antwortung dafür übernehmen. Freilich wird es für seinen Zweck am besten
sein, wenn er diese Lage soviel als lmöglich vermeidet, und wo es irgend
gehen will, die Thatsachen sprechen läßt. — Wir werden bei der Analyse
des Einzelnen mehrfach Gelegenheit haben, auf diese allgemein hingestellten
Einwürfe zurückzukommen.

Der erste Band zerfällt in vier Abschnitte: die Restauration der Bour-
bonen, den wiener Kongreß, die Uebersicht der literarischen Bewegungen und
die östreichischen Zustände bis 1820.

Der erste Theil ist schon vielfältig behandelt worden, vorzugsweise freilich
von französischen Geschichtschreibern, aber auch von deutschen, und im Grunde
ist die richtige Ansicht über diese Begebenheiten soweit festgestellt, daß nicht viel
Neues hinzugefügt werden kann, umsoweniger, wenn man über keine neuen
Quellen disponirt. Trotzdem war dieser Eingang nicht zu ^vermeiden und
Gervinus bringt durch einzelne seiner Reflexionen eine große Befriedigung
hervor. So ist es sehr gut, daß er die Restauration nicht aus zufälligen
kleinen Intriguen ableitet, sondern aus der innern Nothwendigkeit. Es ist
höchst erfreulich, daß er gesinnungslose Intriguanten, wie Talleyrand und Fouchs,
deren unzweifelhafte Talente so manchen weichmüthigen Schriftsteller verführt
haben, mit souveräner Verachtung abfertigt. Freilich ist es nicht geschickt,
daß er einen Tadel gegen die restaurirte Dynastie damit verbindet, weil sie sich
solcher Werkzeuge bedient habe. Wenn Männer, wie Chateaubriand und La¬
martine einen ähnlichen Vorwurf erheben, so verbinden sie damit einen be¬
stimmten Hintergedanken; sie wollen das Ruder des Staats reinen d. h. roya-
ü'heischen Händen anvertrauen. Gervinus ist aber dieser Ansicht keineswegs,
und sein Wunsch, die Regierung ehrlichen und einsichtsvollen Männern an¬
vertraut zu sehen, ist zu allgemein gehalten, um schwer in die Wagschale zu
fallen. Wenn ein neues Herrscherhaus in fertige Zustände eingeführt wird,
so muß es nothgedrungen zunächst versuchen, sich mit den bisherigen Macht¬
habern abzufinden, bis es soweit orientirt und der Situation Herr geworden
ist, um diese beseitigen zu können. Die Machthaber der damaligen Zeit waren
aber unzweifelhaft die Marschälle, Senatoren und Diplomaten des Kaiserreichs.
Sie waren für die erste Periode der Restauration unvermeidlich; übrigens hat
man sie früh genug bei Seite geschafft.— Noch in einem andern Punkt müssen
wir die Restauration in Schutz nehmen. In neuerer Zeit ist das Stichwort
der Legitimität so vielfach ausgebeutet worden, daß man eine gerechte Ab¬
neigung dagegen hat; aber um unbefangen zu urtheilen, muß man sich doch in
die Lage der Betheiligten versetzen. Wenn Ludwig XVIII. darauf bestand, die.
Krone nicht als ein Geschenk des Volkes oder gar des Senats, sondern kraft
des Grundsatzes zu nehmen, daß die Krone nicht stirbt; wenn er erklärte, daß


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[0453] aus der Erzählung zur Reflexion überzugehen, so möge er die persönliche Ver¬ antwortung dafür übernehmen. Freilich wird es für seinen Zweck am besten sein, wenn er diese Lage soviel als lmöglich vermeidet, und wo es irgend gehen will, die Thatsachen sprechen läßt. — Wir werden bei der Analyse des Einzelnen mehrfach Gelegenheit haben, auf diese allgemein hingestellten Einwürfe zurückzukommen. Der erste Band zerfällt in vier Abschnitte: die Restauration der Bour- bonen, den wiener Kongreß, die Uebersicht der literarischen Bewegungen und die östreichischen Zustände bis 1820. Der erste Theil ist schon vielfältig behandelt worden, vorzugsweise freilich von französischen Geschichtschreibern, aber auch von deutschen, und im Grunde ist die richtige Ansicht über diese Begebenheiten soweit festgestellt, daß nicht viel Neues hinzugefügt werden kann, umsoweniger, wenn man über keine neuen Quellen disponirt. Trotzdem war dieser Eingang nicht zu ^vermeiden und Gervinus bringt durch einzelne seiner Reflexionen eine große Befriedigung hervor. So ist es sehr gut, daß er die Restauration nicht aus zufälligen kleinen Intriguen ableitet, sondern aus der innern Nothwendigkeit. Es ist höchst erfreulich, daß er gesinnungslose Intriguanten, wie Talleyrand und Fouchs, deren unzweifelhafte Talente so manchen weichmüthigen Schriftsteller verführt haben, mit souveräner Verachtung abfertigt. Freilich ist es nicht geschickt, daß er einen Tadel gegen die restaurirte Dynastie damit verbindet, weil sie sich solcher Werkzeuge bedient habe. Wenn Männer, wie Chateaubriand und La¬ martine einen ähnlichen Vorwurf erheben, so verbinden sie damit einen be¬ stimmten Hintergedanken; sie wollen das Ruder des Staats reinen d. h. roya- ü'heischen Händen anvertrauen. Gervinus ist aber dieser Ansicht keineswegs, und sein Wunsch, die Regierung ehrlichen und einsichtsvollen Männern an¬ vertraut zu sehen, ist zu allgemein gehalten, um schwer in die Wagschale zu fallen. Wenn ein neues Herrscherhaus in fertige Zustände eingeführt wird, so muß es nothgedrungen zunächst versuchen, sich mit den bisherigen Macht¬ habern abzufinden, bis es soweit orientirt und der Situation Herr geworden ist, um diese beseitigen zu können. Die Machthaber der damaligen Zeit waren aber unzweifelhaft die Marschälle, Senatoren und Diplomaten des Kaiserreichs. Sie waren für die erste Periode der Restauration unvermeidlich; übrigens hat man sie früh genug bei Seite geschafft.— Noch in einem andern Punkt müssen wir die Restauration in Schutz nehmen. In neuerer Zeit ist das Stichwort der Legitimität so vielfach ausgebeutet worden, daß man eine gerechte Ab¬ neigung dagegen hat; aber um unbefangen zu urtheilen, muß man sich doch in die Lage der Betheiligten versetzen. Wenn Ludwig XVIII. darauf bestand, die. Krone nicht als ein Geschenk des Volkes oder gar des Senats, sondern kraft des Grundsatzes zu nehmen, daß die Krone nicht stirbt; wenn er erklärte, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/453>, abgerufen am 22.07.2024.