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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Bild zu geben; aber kaum hat er ihn eingeführt, so fängt er wegen einzelner
Ideen mit ihm zu hadern an, was übrigens gar nicht schwierig ist, da Stein
in seinem Leben wenig Meinungen ausgesprochen hat, über die nicht der kalt¬
blütige Beobachter, der blos das Einzelne auffaßt, den Kopf schütteln möchte.
Man hat nichts nöthig, als sein Leben in die einzelnen Tage zu zerlegen und
den verbindenden Faden fallen zu lassen, um ihn zu einer lächerlichen Figur
zu verzerren; aber der echte Historiker soll grade zeigen, daß er nicht analysirt
wie der gemeine Mann, daß seine Analyse das Nervengeflecht bloßlegt, wäh¬
rend der gemeine Mann seine Pflicht gethan zu haben glaubt, wenn er die
Oberfläche durch das Mikrdskop besieht. Die Charakteristik der hervorragenden
deutschen Männer zur Zeit des wiener Kongresses war nicht nur eine äußere
Zierrath, die der Geschichtschreiber des 19. Jahrhunderts nach Belieben an¬
bringen oder weglassen konnte, sondern sie gehörte nothwendig zum Organis¬
mus des Baues und Gervinus hat damit eine seiner schönsten Aufgaben ver¬
nachlässigt. Wir wollen hoffen, daß er sie nachträglich ergänzen wird, ob¬
gleich sich ihm kaum eine so günstige Gelegenheit, wie im ersten Bande, wieder
darbieten dürfte.

In der Darstellung finden wir das sorgfältige Bemühen, die bisherige
Weise seines Stils, den beständigen Parallelismus, der sich für die ruhige
Erzählung nicht eignet, aufzugeben und wir finden sogar ziemlich starke Ein¬
wirkungen von dem Stil Macaulays; allein Spuren seiner alten Weise sind
noch immer geblieben*) und die neue Weise hat sich umsoweniger damit ver¬
schmelzen wollen, da das glänzende rhetorische Talent Macaulays unserm deut¬
schen Historiker fehlt. Zweckmäßiger wäre- es vielleicht gewesen, wenn Ger¬
vinus nach möglichster Einfachheit und Klarheit des Stils gestrebt hätte. --
Man hat ihm öfters vorgeworfen, daß er mit seiner persönlichen Meinung zu
sehr hervortritt; um dies zu vermeiden, wendete er das Mittel der Anonymität
an. Wo es ihn drängt, seine Meinung auszusprechen, tritt er nicht in eigner
Person auf, sondern erzählt: "Scharfe Kritiker sagen", "dieser und jener sagt",
"man war der Ansicht" u. s. w. Aber es kommt gar nicht darauf an, was ein
scharfer Kritiker, was dieser oder jener, was Hans oder Kunz sagt, sondern
was das Nichtige ist; und wenn sich der Geschichtschreiber in der Lage findet,



Als ein wunderliches Beispiel führen wir einen Satz über W. Scott an. S. i0-°>-
"Denn obgleich man von ihm (wie von Beethoven) rühmte, daß niemand der Welt soviel
Vergnügen gemacht habe, wie er mit den Erzählungen, die der ganzen Lesewelt tägliche Nah¬
rung waren, so war doch von jener geistigen Tiefe, die große Probleme kosend oder auf¬
werfend das Geistesleben der Völker an sich selber förderte, oder von jener eindringenden,
ideeuhafteu Umfassung des Nationallebens, die im Sinne Shakespeares ein Spiegelbild der
Zeit entwerfen könnte, nichts, weder in ScottS Persönlichkeit, noch in seinen Werken."
Erinnert diese unrhythmische Gedankenverbindung (W. Scott und Beethoven) nicht stark an die
Manier Jean Pauls?

Bild zu geben; aber kaum hat er ihn eingeführt, so fängt er wegen einzelner
Ideen mit ihm zu hadern an, was übrigens gar nicht schwierig ist, da Stein
in seinem Leben wenig Meinungen ausgesprochen hat, über die nicht der kalt¬
blütige Beobachter, der blos das Einzelne auffaßt, den Kopf schütteln möchte.
Man hat nichts nöthig, als sein Leben in die einzelnen Tage zu zerlegen und
den verbindenden Faden fallen zu lassen, um ihn zu einer lächerlichen Figur
zu verzerren; aber der echte Historiker soll grade zeigen, daß er nicht analysirt
wie der gemeine Mann, daß seine Analyse das Nervengeflecht bloßlegt, wäh¬
rend der gemeine Mann seine Pflicht gethan zu haben glaubt, wenn er die
Oberfläche durch das Mikrdskop besieht. Die Charakteristik der hervorragenden
deutschen Männer zur Zeit des wiener Kongresses war nicht nur eine äußere
Zierrath, die der Geschichtschreiber des 19. Jahrhunderts nach Belieben an¬
bringen oder weglassen konnte, sondern sie gehörte nothwendig zum Organis¬
mus des Baues und Gervinus hat damit eine seiner schönsten Aufgaben ver¬
nachlässigt. Wir wollen hoffen, daß er sie nachträglich ergänzen wird, ob¬
gleich sich ihm kaum eine so günstige Gelegenheit, wie im ersten Bande, wieder
darbieten dürfte.

In der Darstellung finden wir das sorgfältige Bemühen, die bisherige
Weise seines Stils, den beständigen Parallelismus, der sich für die ruhige
Erzählung nicht eignet, aufzugeben und wir finden sogar ziemlich starke Ein¬
wirkungen von dem Stil Macaulays; allein Spuren seiner alten Weise sind
noch immer geblieben*) und die neue Weise hat sich umsoweniger damit ver¬
schmelzen wollen, da das glänzende rhetorische Talent Macaulays unserm deut¬
schen Historiker fehlt. Zweckmäßiger wäre- es vielleicht gewesen, wenn Ger¬
vinus nach möglichster Einfachheit und Klarheit des Stils gestrebt hätte. —
Man hat ihm öfters vorgeworfen, daß er mit seiner persönlichen Meinung zu
sehr hervortritt; um dies zu vermeiden, wendete er das Mittel der Anonymität
an. Wo es ihn drängt, seine Meinung auszusprechen, tritt er nicht in eigner
Person auf, sondern erzählt: „Scharfe Kritiker sagen", „dieser und jener sagt",
„man war der Ansicht" u. s. w. Aber es kommt gar nicht darauf an, was ein
scharfer Kritiker, was dieser oder jener, was Hans oder Kunz sagt, sondern
was das Nichtige ist; und wenn sich der Geschichtschreiber in der Lage findet,



Als ein wunderliches Beispiel führen wir einen Satz über W. Scott an. S. i0-°>-
„Denn obgleich man von ihm (wie von Beethoven) rühmte, daß niemand der Welt soviel
Vergnügen gemacht habe, wie er mit den Erzählungen, die der ganzen Lesewelt tägliche Nah¬
rung waren, so war doch von jener geistigen Tiefe, die große Probleme kosend oder auf¬
werfend das Geistesleben der Völker an sich selber förderte, oder von jener eindringenden,
ideeuhafteu Umfassung des Nationallebens, die im Sinne Shakespeares ein Spiegelbild der
Zeit entwerfen könnte, nichts, weder in ScottS Persönlichkeit, noch in seinen Werken."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/452>, abgerufen am 22.07.2024.