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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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können. Einmal haben beide Staaten die Erkenntniß gewonnen, daß aus dem
bisherigen Wege das Ziel nicht zu erreichen ist; es hat sich gezeigt, daß in
der englischen Verfassung, ja in dem ganzen System, worauf das englische
Leben beruht, eine Modification nothwendig geworden ist. Die öffentliche
Meinung, von dieser Ueberzeugung durchdrungen und doch rathlos über den
Weg, der zunächst einzuschlagen sei, ist in einer dumpfen Gährung, welcher
die Führer der bisher herrschenden Parteien nur einen scheuen Widerstand ent¬
gegensetzen. Wie auch der Ausgang des Krieges sei, mit der erclustven Herr¬
schaft der aristokratischen Fractionen hat es ein Ende; sie werden sich entweder
dazu verstehen müssen, sich durch populäre Elemente zu verjüngen, oder sie
werden gestürzt werden. Mit großer Besonnenheit ist in der bisherigen Ent¬
wicklung der britischen Geschichte die mittelalterlich aristokratische Form fest¬
gehalten worden, während der Kern des Lebens einen durchaus modernen
Charakter annahm; jetzt ist aber die Entwicklung soweit gediehen, daß man
diesen Gegensatz als Lüge empfindet, und die Lüge erträgt der Engländer auf
die Länge nicht. -- Auf der andern Seite wird der Kaiser der Franzosen, der
bisher in den gemeinbürgerlichen Dingen mit einer gewissen vornehmen
Gleichgültigkeit zu Werke gegangen ist, allmälig einsehen, daß auf die Dauer
der Heroismus der materiellen Mittel nicht entbehren kann, und daß diese
nur durch Achtung vor den bürgerlichen Beziehungen beschafft werden. Die
entschiedensten Gegner des Kaisers Napoleon werden nicht leugnen, daß er ein
Moment zur Geltung gebracht hat, welches die Franzosen nicht entbehren
können und welches sowol die Restauration als die Julidynastie versäumte:
er hat das militärische Selbstbewußtsein der "großen Nation" wieder angefeuert
und er hat ihr glänzende Schauspiele gegeben; aber wenn sich auch beides eine
Zeitlang improvisiren läßt, so ist doch, wenn man es länger fortsetzen will,
Geld und Credit dazu nöthig und beides erlangt man nur aus die gemein¬
bürgerliche Weise.

Wenn also im Laufe des Krieges die Nothwendigkeit beide Staaten zu
innern Reformen treiben wird, so ist ebenso eine, wenn auch nur allmälige
Aenderung ihrer Ansichten über die auswärtige Politik davon zu erwarten. Daß
Nußland unter den gegenwärtigen Umständen sich nachgiebiger zeigen wird,
als zur Zeit der wiener Conferenzen, ist durchaus nicht zu erwarten, .und die
beiden Staaten, England und Frankreich, so mächtig sie sind, haben doch keine
Mittel in Händen, Nußland zum Frieden zu zwingen; sie mögen die russischen
Häfen noch Jahre hindurch blokiren, sie mögen Sebastopol und die Flotte
zerstören, damit wird Rußland noch nicht ausgehungert. Es ist für einen
großen Staat, wie Rußland, zwar ein sehr demüthigendes Gefühl, sich blos
zu vertheidigen und dem Gegner gar nicht beikommen zu können, aber es wird
grade durch die Fortdauer des Kriegs in die träge slawische Masse ein fanati-


können. Einmal haben beide Staaten die Erkenntniß gewonnen, daß aus dem
bisherigen Wege das Ziel nicht zu erreichen ist; es hat sich gezeigt, daß in
der englischen Verfassung, ja in dem ganzen System, worauf das englische
Leben beruht, eine Modification nothwendig geworden ist. Die öffentliche
Meinung, von dieser Ueberzeugung durchdrungen und doch rathlos über den
Weg, der zunächst einzuschlagen sei, ist in einer dumpfen Gährung, welcher
die Führer der bisher herrschenden Parteien nur einen scheuen Widerstand ent¬
gegensetzen. Wie auch der Ausgang des Krieges sei, mit der erclustven Herr¬
schaft der aristokratischen Fractionen hat es ein Ende; sie werden sich entweder
dazu verstehen müssen, sich durch populäre Elemente zu verjüngen, oder sie
werden gestürzt werden. Mit großer Besonnenheit ist in der bisherigen Ent¬
wicklung der britischen Geschichte die mittelalterlich aristokratische Form fest¬
gehalten worden, während der Kern des Lebens einen durchaus modernen
Charakter annahm; jetzt ist aber die Entwicklung soweit gediehen, daß man
diesen Gegensatz als Lüge empfindet, und die Lüge erträgt der Engländer auf
die Länge nicht. — Auf der andern Seite wird der Kaiser der Franzosen, der
bisher in den gemeinbürgerlichen Dingen mit einer gewissen vornehmen
Gleichgültigkeit zu Werke gegangen ist, allmälig einsehen, daß auf die Dauer
der Heroismus der materiellen Mittel nicht entbehren kann, und daß diese
nur durch Achtung vor den bürgerlichen Beziehungen beschafft werden. Die
entschiedensten Gegner des Kaisers Napoleon werden nicht leugnen, daß er ein
Moment zur Geltung gebracht hat, welches die Franzosen nicht entbehren
können und welches sowol die Restauration als die Julidynastie versäumte:
er hat das militärische Selbstbewußtsein der „großen Nation" wieder angefeuert
und er hat ihr glänzende Schauspiele gegeben; aber wenn sich auch beides eine
Zeitlang improvisiren läßt, so ist doch, wenn man es länger fortsetzen will,
Geld und Credit dazu nöthig und beides erlangt man nur aus die gemein¬
bürgerliche Weise.

Wenn also im Laufe des Krieges die Nothwendigkeit beide Staaten zu
innern Reformen treiben wird, so ist ebenso eine, wenn auch nur allmälige
Aenderung ihrer Ansichten über die auswärtige Politik davon zu erwarten. Daß
Nußland unter den gegenwärtigen Umständen sich nachgiebiger zeigen wird,
als zur Zeit der wiener Conferenzen, ist durchaus nicht zu erwarten, .und die
beiden Staaten, England und Frankreich, so mächtig sie sind, haben doch keine
Mittel in Händen, Nußland zum Frieden zu zwingen; sie mögen die russischen
Häfen noch Jahre hindurch blokiren, sie mögen Sebastopol und die Flotte
zerstören, damit wird Rußland noch nicht ausgehungert. Es ist für einen
großen Staat, wie Rußland, zwar ein sehr demüthigendes Gefühl, sich blos
zu vertheidigen und dem Gegner gar nicht beikommen zu können, aber es wird
grade durch die Fortdauer des Kriegs in die träge slawische Masse ein fanati-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/434>, abgerufen am 22.12.2024.