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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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mir starker thatsächlicher Naivetät in ein Idol umwandeln mußte. Höchst wahr¬
scheinlich waren Popanz und Idol gleich imaginäre Schöpfungen.

Auch an den Urtheilen kann man den Charakter der Zeitgenossen und
Geschichte stuoiren. Heute soll Palmerston abgenützt sein; "man braucht gar nicht
mehr von ihm zu reden, weil alle zu reden anfangen" -- schreiben uns geist¬
reiche Berichterstatter aus Altengland. Möglich daß Palmerston schon zu alt
ist, um diese Stimmen vollständig Lügen zu strafen, auch wenn ihn sonst nichts
daran hinderte; aber ins Gedächtniß möchten wir doch nur ein paar kurze
Jahre zurückrufen, in denen man auch von so manchem und so mancher
"nicht mehr zu reden brauchte", was sich nachher denn doch nicht als so gänz¬
lich "abgenützt" und todt gezeigt. Und ob wir nun einen besondern Werth
darauf legen wollen oder nicht (warum sollte man es nicht thun? im eng¬
lischen Parlamente ist vieles faul, wie "im Staate Dänemark", aber es lebt
denn doch noch), grade dieses Parlament scheint von jener "Abgenützthcit" noch
nicht so vollständig überzeugt zu sein

Also erwarten wir Großes, Erstaunliches, Ungewöhnliches von Palmer¬
ston? Eine närrische Frage, mit Erlaubniß. Sie kann uns indeß zu einer
Bemerkung führen, um die es uns vielleicht hier am meisten zu thun ist und
die wir auch an jeden andern Namen hätten knüpfen können. Was erwartet
Ihr von Preußen, von Deutschland, von Oestreich, von der Türkei :c. :c.?
Fragt die Leute so (und die Zeit fragt täglich sehr ernst), so dürft Ihr sicher
sein, auf unendlich viele Bedenken und --Ausflüchte zu treffen und Euch die
unendliche Schwierigkeit der Situation vorgehalten zu sehen. Wir wissen auch
nicht, wo daS Ziel dieser ringenden Welt geboren werden wird; wir wissen
höchstens, wo und wie es nicht geboren wird. Wir wissen, daß die Schwäche
und die Halbheit nicht seine Mütter sein können; aber wir schwören deshalb
noch nicht aus Palmerston und Louis Napoleon; wir schwören auf niemanden,
als auf den Geist der langsamen, aber unausbleiblichen Entwicklung, der zu¬
gleich die geschichtliche Nothwendigkeit ist, vor der die Weisheit des Tages wie
ein Spinnengewebe im Sturm zerstiebt und der sich seine Werkzeuge wählt
und sie wegwirft.

Oben wurde Palmerston nach einer andern Quelle "die That der Huma¬
nität" genannt. Man mißverstehe dies nicht! Er bleibt deshalb ein so guier,
richtiger Engländer, als nur je einer gelebt, der in allem nur ein Mittel sieht,
den politischen Einfluß Englands zu erweitern. Dieß ist für uns, die wir
noch nicht gelernt haben, gute, richtige Deutsche zu sein, ein scheinbarer
Widerspruch. Unser richtiges Deutschthum scheint uns fast schon gewahrt,
wenn wir uns mitten im gewaltigen Weltsturme zu der kühnen Aeußerung
emporgeschwungen haben: "Dies geht uns nichts an." Wenn nur der Sturm


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mir starker thatsächlicher Naivetät in ein Idol umwandeln mußte. Höchst wahr¬
scheinlich waren Popanz und Idol gleich imaginäre Schöpfungen.

Auch an den Urtheilen kann man den Charakter der Zeitgenossen und
Geschichte stuoiren. Heute soll Palmerston abgenützt sein; „man braucht gar nicht
mehr von ihm zu reden, weil alle zu reden anfangen" — schreiben uns geist¬
reiche Berichterstatter aus Altengland. Möglich daß Palmerston schon zu alt
ist, um diese Stimmen vollständig Lügen zu strafen, auch wenn ihn sonst nichts
daran hinderte; aber ins Gedächtniß möchten wir doch nur ein paar kurze
Jahre zurückrufen, in denen man auch von so manchem und so mancher
„nicht mehr zu reden brauchte", was sich nachher denn doch nicht als so gänz¬
lich „abgenützt" und todt gezeigt. Und ob wir nun einen besondern Werth
darauf legen wollen oder nicht (warum sollte man es nicht thun? im eng¬
lischen Parlamente ist vieles faul, wie „im Staate Dänemark", aber es lebt
denn doch noch), grade dieses Parlament scheint von jener „Abgenützthcit" noch
nicht so vollständig überzeugt zu sein

Also erwarten wir Großes, Erstaunliches, Ungewöhnliches von Palmer¬
ston? Eine närrische Frage, mit Erlaubniß. Sie kann uns indeß zu einer
Bemerkung führen, um die es uns vielleicht hier am meisten zu thun ist und
die wir auch an jeden andern Namen hätten knüpfen können. Was erwartet
Ihr von Preußen, von Deutschland, von Oestreich, von der Türkei :c. :c.?
Fragt die Leute so (und die Zeit fragt täglich sehr ernst), so dürft Ihr sicher
sein, auf unendlich viele Bedenken und —Ausflüchte zu treffen und Euch die
unendliche Schwierigkeit der Situation vorgehalten zu sehen. Wir wissen auch
nicht, wo daS Ziel dieser ringenden Welt geboren werden wird; wir wissen
höchstens, wo und wie es nicht geboren wird. Wir wissen, daß die Schwäche
und die Halbheit nicht seine Mütter sein können; aber wir schwören deshalb
noch nicht aus Palmerston und Louis Napoleon; wir schwören auf niemanden,
als auf den Geist der langsamen, aber unausbleiblichen Entwicklung, der zu¬
gleich die geschichtliche Nothwendigkeit ist, vor der die Weisheit des Tages wie
ein Spinnengewebe im Sturm zerstiebt und der sich seine Werkzeuge wählt
und sie wegwirft.

Oben wurde Palmerston nach einer andern Quelle „die That der Huma¬
nität" genannt. Man mißverstehe dies nicht! Er bleibt deshalb ein so guier,
richtiger Engländer, als nur je einer gelebt, der in allem nur ein Mittel sieht,
den politischen Einfluß Englands zu erweitern. Dieß ist für uns, die wir
noch nicht gelernt haben, gute, richtige Deutsche zu sein, ein scheinbarer
Widerspruch. Unser richtiges Deutschthum scheint uns fast schon gewahrt,
wenn wir uns mitten im gewaltigen Weltsturme zu der kühnen Aeußerung
emporgeschwungen haben: „Dies geht uns nichts an." Wenn nur der Sturm


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[0043] mir starker thatsächlicher Naivetät in ein Idol umwandeln mußte. Höchst wahr¬ scheinlich waren Popanz und Idol gleich imaginäre Schöpfungen. Auch an den Urtheilen kann man den Charakter der Zeitgenossen und Geschichte stuoiren. Heute soll Palmerston abgenützt sein; „man braucht gar nicht mehr von ihm zu reden, weil alle zu reden anfangen" — schreiben uns geist¬ reiche Berichterstatter aus Altengland. Möglich daß Palmerston schon zu alt ist, um diese Stimmen vollständig Lügen zu strafen, auch wenn ihn sonst nichts daran hinderte; aber ins Gedächtniß möchten wir doch nur ein paar kurze Jahre zurückrufen, in denen man auch von so manchem und so mancher „nicht mehr zu reden brauchte", was sich nachher denn doch nicht als so gänz¬ lich „abgenützt" und todt gezeigt. Und ob wir nun einen besondern Werth darauf legen wollen oder nicht (warum sollte man es nicht thun? im eng¬ lischen Parlamente ist vieles faul, wie „im Staate Dänemark", aber es lebt denn doch noch), grade dieses Parlament scheint von jener „Abgenützthcit" noch nicht so vollständig überzeugt zu sein Also erwarten wir Großes, Erstaunliches, Ungewöhnliches von Palmer¬ ston? Eine närrische Frage, mit Erlaubniß. Sie kann uns indeß zu einer Bemerkung führen, um die es uns vielleicht hier am meisten zu thun ist und die wir auch an jeden andern Namen hätten knüpfen können. Was erwartet Ihr von Preußen, von Deutschland, von Oestreich, von der Türkei :c. :c.? Fragt die Leute so (und die Zeit fragt täglich sehr ernst), so dürft Ihr sicher sein, auf unendlich viele Bedenken und —Ausflüchte zu treffen und Euch die unendliche Schwierigkeit der Situation vorgehalten zu sehen. Wir wissen auch nicht, wo daS Ziel dieser ringenden Welt geboren werden wird; wir wissen höchstens, wo und wie es nicht geboren wird. Wir wissen, daß die Schwäche und die Halbheit nicht seine Mütter sein können; aber wir schwören deshalb noch nicht aus Palmerston und Louis Napoleon; wir schwören auf niemanden, als auf den Geist der langsamen, aber unausbleiblichen Entwicklung, der zu¬ gleich die geschichtliche Nothwendigkeit ist, vor der die Weisheit des Tages wie ein Spinnengewebe im Sturm zerstiebt und der sich seine Werkzeuge wählt und sie wegwirft. Oben wurde Palmerston nach einer andern Quelle „die That der Huma¬ nität" genannt. Man mißverstehe dies nicht! Er bleibt deshalb ein so guier, richtiger Engländer, als nur je einer gelebt, der in allem nur ein Mittel sieht, den politischen Einfluß Englands zu erweitern. Dieß ist für uns, die wir noch nicht gelernt haben, gute, richtige Deutsche zu sein, ein scheinbarer Widerspruch. Unser richtiges Deutschthum scheint uns fast schon gewahrt, wenn wir uns mitten im gewaltigen Weltsturme zu der kühnen Aeußerung emporgeschwungen haben: „Dies geht uns nichts an." Wenn nur der Sturm 5*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/43>, abgerufen am 22.12.2024.