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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Paradorie die schwarze Seite der menschlichen Natur dargestellt. DaS ist
dies Mal weniger der Fall. Zwar würden wir gern einen großen Theil der
untergeordneten Personen entbehren, dasür ist aber in den beiden Hauptpersonen,
in König Heinrich und in dem Prätendenten, ein kräftiger historischer Zug,
der wenigstens für Augenblicke den Leser mit fortreißt. Die Aufführung wird
starke Striche nöthig machen; doch sollten sich bei der großen Armuth, die jetzt
auf dem dramatischen Gebiet herrscht, die Theater diese interessante Arbeit nicht
entgehen lassen. -- Viel schwächer ist das historische Trauerspiel von Robert
Giseke: Johannes Rathenow, ein Bürgermeister von Berlin. Leipzig, Brock¬
haus.-- Der Roman von W. Aleris, nach welchem das Stück gearbeitet ist,
gehört zu den besten unsrer Literatur. Er stellt uns das brandenburgische
Städteleben zu Ende des Mittelalters mit einer Plastik dar, die etwas Be¬
zauberndes hat, und über der wir einzelne verwirrte Scenen leicht vergessen.
Allein zu dieser Plastik gehört ganz nothwendig die Breite der Nomandar-
stellung. Die Art und Weise, wie uns in dem Drama die berliner Finanz¬
verhältnisse vorgestellt werden, sowie die Einmischung der Localitäten, nament¬
lich des steinernen Roland, ist ganz äußerlich und kann unser Interesse nicht
erregen, während wir sie im Roman vollkommen verstehen. Zwar hat der
Verfasser geschickt die einzelnen dramatischen Momente getroffen, aber sie haben
keinen innern Zusammenhang, und wenn seine Bildung auch viel umfassender
ist, als die der Frau Birch-Pfeiffer, so ist seine Methode doch ganz die näm¬
liche. -- Am schwächsten ist das historisch-romantische Drama: Napoleon auf
Helena, von Kahlbau. Tangermünde, Döger. -- Der Versuch, das Ende
Napoleons sentimental aufzufassen, wird wol im lyrischen Gedicht gelingen,
aber nicht im Drama, wo man notwendigerweise bestimmt umrissene Ge¬
stalten verlangt; am wenigsten wird er gelingen, wenn man schwärmerische
Damen mit ins Spiel bringt. -- Ein andres Gebiet betreten wir in dem
Drama von Adolph Widmann: Nausikaa (Berlin, Franz Duncker.) Der Ver¬
sasser hat den Goethescher Plan zu Grunde gelegt und ihn nicht ohne Geschick
durchgeführt, wie wir denn schon in seinen frühern Werken eine wirklich poetische
Begabung anerkannten. Allein um dem ziemlich dürftigen Stoff ein wirkliches
Interesse zu verleihen, wäre eine glänzendere Fülle von Gedanken, Bildern
und Empfindungen nöthig gewesen, als sie dem Verfasser zu Gebote stehen.
Die Stimmung des Stücks ist nicht classisch, sondern romantisch. In den
Selbstmord der Nausikaa wird ein ethischer Inhalt gebracht. Poseidon, er¬
zürnt über den Schutz, den man seinem Feind hat angedeihen lassen, verwan¬
delt das Schiff, das ihn heimgeführt, in Stein, und umgibt die ganze Insel
mit einer Steinmauer. Das Volk ist in Verzweiflung, da bietet sich die
Prinzessin, die schon zu Anfang ganz gegen den Sinn der Fabel eine gewisse
Anlage zur Schwärmerei gezeigt, dem Gott des Meeres als Opfer, die Wogen


Paradorie die schwarze Seite der menschlichen Natur dargestellt. DaS ist
dies Mal weniger der Fall. Zwar würden wir gern einen großen Theil der
untergeordneten Personen entbehren, dasür ist aber in den beiden Hauptpersonen,
in König Heinrich und in dem Prätendenten, ein kräftiger historischer Zug,
der wenigstens für Augenblicke den Leser mit fortreißt. Die Aufführung wird
starke Striche nöthig machen; doch sollten sich bei der großen Armuth, die jetzt
auf dem dramatischen Gebiet herrscht, die Theater diese interessante Arbeit nicht
entgehen lassen. — Viel schwächer ist das historische Trauerspiel von Robert
Giseke: Johannes Rathenow, ein Bürgermeister von Berlin. Leipzig, Brock¬
haus.— Der Roman von W. Aleris, nach welchem das Stück gearbeitet ist,
gehört zu den besten unsrer Literatur. Er stellt uns das brandenburgische
Städteleben zu Ende des Mittelalters mit einer Plastik dar, die etwas Be¬
zauberndes hat, und über der wir einzelne verwirrte Scenen leicht vergessen.
Allein zu dieser Plastik gehört ganz nothwendig die Breite der Nomandar-
stellung. Die Art und Weise, wie uns in dem Drama die berliner Finanz¬
verhältnisse vorgestellt werden, sowie die Einmischung der Localitäten, nament¬
lich des steinernen Roland, ist ganz äußerlich und kann unser Interesse nicht
erregen, während wir sie im Roman vollkommen verstehen. Zwar hat der
Verfasser geschickt die einzelnen dramatischen Momente getroffen, aber sie haben
keinen innern Zusammenhang, und wenn seine Bildung auch viel umfassender
ist, als die der Frau Birch-Pfeiffer, so ist seine Methode doch ganz die näm¬
liche. — Am schwächsten ist das historisch-romantische Drama: Napoleon auf
Helena, von Kahlbau. Tangermünde, Döger. — Der Versuch, das Ende
Napoleons sentimental aufzufassen, wird wol im lyrischen Gedicht gelingen,
aber nicht im Drama, wo man notwendigerweise bestimmt umrissene Ge¬
stalten verlangt; am wenigsten wird er gelingen, wenn man schwärmerische
Damen mit ins Spiel bringt. — Ein andres Gebiet betreten wir in dem
Drama von Adolph Widmann: Nausikaa (Berlin, Franz Duncker.) Der Ver¬
sasser hat den Goethescher Plan zu Grunde gelegt und ihn nicht ohne Geschick
durchgeführt, wie wir denn schon in seinen frühern Werken eine wirklich poetische
Begabung anerkannten. Allein um dem ziemlich dürftigen Stoff ein wirkliches
Interesse zu verleihen, wäre eine glänzendere Fülle von Gedanken, Bildern
und Empfindungen nöthig gewesen, als sie dem Verfasser zu Gebote stehen.
Die Stimmung des Stücks ist nicht classisch, sondern romantisch. In den
Selbstmord der Nausikaa wird ein ethischer Inhalt gebracht. Poseidon, er¬
zürnt über den Schutz, den man seinem Feind hat angedeihen lassen, verwan¬
delt das Schiff, das ihn heimgeführt, in Stein, und umgibt die ganze Insel
mit einer Steinmauer. Das Volk ist in Verzweiflung, da bietet sich die
Prinzessin, die schon zu Anfang ganz gegen den Sinn der Fabel eine gewisse
Anlage zur Schwärmerei gezeigt, dem Gott des Meeres als Opfer, die Wogen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/396>, abgerufen am 22.12.2024.