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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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behalten sollen, denn bei possenhaften Voraussetzungen verlangt man auch ein
Possenhaftes Endergebniß.

Wenn schon die novellistische Umdichtung des Märchens dem Stoff seine
natürliche Farbe nimmt, so ist das bei der dramatischen Bearbeitung noch viel
schlimmer. Vom Drama müssen wir einen psychologischen Zusammenhang und
ethischen Gehalt verlangen: der Neiz des Märchens liegt aber grade darin,
daß man nach keinem von beiden ein Bedürfniß fühlt. Hier, wie in vielen
andern Fällen sind die Romantiker durch das Beispiel Shakespeares verleitet
worden, namentlich durch das "Wintermärchen", den "Sommernachtstraum"
und "Wie es euch gefällt."

Das Däumchen macht unter diesen Versuchen schon insofern den besten
Eindruck, als es durchaus possenhaft gehalten ist und vom Drama weiter nichts
beansprucht, als die dialogische Form. Die Idee, sich das Wesen eines
Menschenfressers im Detail auszumalen, ihn nicht blos mit dem fabelhaften
Hof des König Artus, sonvern auch mit der Bildung und den Empfindungen
der modernen Gesellschaft in Verbindung zu setzen und diese Gegensätze fratzen¬
haft ineinanderspielen zu lassen, ist mit Humor ausgedacht und ausgeführt.
Viele von den Einfällen, in denen sich dieser Schwank ausbreitet, überraschen
durch ihre Naturwüchsigst. Trotz der Unmöglichkeit und Widersinnigkeit der
Anlage ist selbst eine gewisse Charakteristik in den Figuren. Der Dichter zeigt
diesmal in der That soviel Freiheit und Uebermuth, daß er mit seinen Ein¬
fällen spielen kann, ohne sich ihnen gefangen zu geben. Hätte er für die
liebenswürdige Albernheit, die man über eine gewisse Grenze hinaus nicht mehr
ertragen kann, das richtige Maß gefunden, so würde dieses schalkhafte Spiel
einen ganz ungetrübten Eindruck machen.

Ganz anders ist die Anlage des Blaubart (1797), in welchem sich das
Märchen zu einer ausführlichen dramatischen Darstellung entfaltet. "Der.Ver¬
sasser," sagt A. W. Schlegel, "ist ein wahrer Gegenfüßler unsrer gewappneten
ritterlichen Schriftsteller: da diese nur darauf arbeiten, das Gemeinste, Ab¬
gedroschenste als höchst abenteuerlich, ja unnatürlich vorzustellen, so hat er sich
dagegen bemüht, das Wunderbare so natürlich und schlicht als möglich, gleich¬
sam im Nachtkleide erscheinen zu lassen.... Die Charaktere geben sich nicht
für dieses oder jenes, sie sind wie sie sind, ohne zu wissen, daß es auch anders
sein könnte. Dies ist in der Natur, nur in den schlechten Schauspielen reden die
Tugendhaften von ihrer Tugend und die Bösewichter von ihrer Abscheulich¬
keit u. s. w." -- Hier hat Schlegel einen an sich richtigen Grundsatz auf die
Spitze gestellt und ihn dadurch verkehrt. Freilich ist es ungeschickt, wenn der
dramatische Dichter, anstatt den Inhalt seiner Charaktere in Handlungen zu
entfalten, ihnen Reflexionen über ihre eigne Schlechtigkeit n. s. w. in den
Mund legt; allein ebensowenig genügt es zur Zeichnung eines Charakters


behalten sollen, denn bei possenhaften Voraussetzungen verlangt man auch ein
Possenhaftes Endergebniß.

Wenn schon die novellistische Umdichtung des Märchens dem Stoff seine
natürliche Farbe nimmt, so ist das bei der dramatischen Bearbeitung noch viel
schlimmer. Vom Drama müssen wir einen psychologischen Zusammenhang und
ethischen Gehalt verlangen: der Neiz des Märchens liegt aber grade darin,
daß man nach keinem von beiden ein Bedürfniß fühlt. Hier, wie in vielen
andern Fällen sind die Romantiker durch das Beispiel Shakespeares verleitet
worden, namentlich durch das „Wintermärchen", den „Sommernachtstraum"
und „Wie es euch gefällt."

Das Däumchen macht unter diesen Versuchen schon insofern den besten
Eindruck, als es durchaus possenhaft gehalten ist und vom Drama weiter nichts
beansprucht, als die dialogische Form. Die Idee, sich das Wesen eines
Menschenfressers im Detail auszumalen, ihn nicht blos mit dem fabelhaften
Hof des König Artus, sonvern auch mit der Bildung und den Empfindungen
der modernen Gesellschaft in Verbindung zu setzen und diese Gegensätze fratzen¬
haft ineinanderspielen zu lassen, ist mit Humor ausgedacht und ausgeführt.
Viele von den Einfällen, in denen sich dieser Schwank ausbreitet, überraschen
durch ihre Naturwüchsigst. Trotz der Unmöglichkeit und Widersinnigkeit der
Anlage ist selbst eine gewisse Charakteristik in den Figuren. Der Dichter zeigt
diesmal in der That soviel Freiheit und Uebermuth, daß er mit seinen Ein¬
fällen spielen kann, ohne sich ihnen gefangen zu geben. Hätte er für die
liebenswürdige Albernheit, die man über eine gewisse Grenze hinaus nicht mehr
ertragen kann, das richtige Maß gefunden, so würde dieses schalkhafte Spiel
einen ganz ungetrübten Eindruck machen.

Ganz anders ist die Anlage des Blaubart (1797), in welchem sich das
Märchen zu einer ausführlichen dramatischen Darstellung entfaltet. „Der.Ver¬
sasser," sagt A. W. Schlegel, „ist ein wahrer Gegenfüßler unsrer gewappneten
ritterlichen Schriftsteller: da diese nur darauf arbeiten, das Gemeinste, Ab¬
gedroschenste als höchst abenteuerlich, ja unnatürlich vorzustellen, so hat er sich
dagegen bemüht, das Wunderbare so natürlich und schlicht als möglich, gleich¬
sam im Nachtkleide erscheinen zu lassen.... Die Charaktere geben sich nicht
für dieses oder jenes, sie sind wie sie sind, ohne zu wissen, daß es auch anders
sein könnte. Dies ist in der Natur, nur in den schlechten Schauspielen reden die
Tugendhaften von ihrer Tugend und die Bösewichter von ihrer Abscheulich¬
keit u. s. w." — Hier hat Schlegel einen an sich richtigen Grundsatz auf die
Spitze gestellt und ihn dadurch verkehrt. Freilich ist es ungeschickt, wenn der
dramatische Dichter, anstatt den Inhalt seiner Charaktere in Handlungen zu
entfalten, ihnen Reflexionen über ihre eigne Schlechtigkeit n. s. w. in den
Mund legt; allein ebensowenig genügt es zur Zeichnung eines Charakters


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/341>, abgerufen am 22.07.2024.