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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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und der Franzose ins Gras beißen, während der Engländer sich bereitwillig
dadurch das Leben erkauft, daß er seine Taschen leert. So bildet man die
öffentliche Meinung derer, welche lesen können; die es nicht können, werden
mit noch gröberen Lügen abgespeist. Der Angriff auf das Kloster Solowetzki
im weißen Meere wurde mit großer Schnelligkeit und vielen Zusätzen und
Ausschmückungen von der Priesterschaft durch das Land verbreitet. Wie mir
ein Bauer erzählte, hätten die englischen Barbaren, die weder gegen den hei¬
ligen Ort, noch gegen seine heiligen Bewohner Schonung gekannt hätten, die
Mönche gespießt. Durch solche absichtliche Entstellungen sucht man die Be¬
völkerung zu einem fanatischen Haß gegen die Engländer zu entflammen. Die
Friedensfreunde, wie die Bright und Cobden, sind bei diesen Herren sehr
beliebt und ihre Reden werden von allen russischen Zeitungen auf das ge¬
wissenhafteste übersetzt. Ueberall werden sie als die einzigen wahren Vertreter der
Ansichten der Mehrheit des englischen Volkes dargestellt, so daß die Russen
fest überzeugt sind, die Volksmasse sei zu einem Aufstande reif; und ich bezweifle
gar nicht, daß die vor kurzem in London mit der Polizei vorgekommenen Häke¬
leien in Rußland als eine durch den Druck der Kriegslasten hervorgerufene
ernsthafte Revolution dargestellt werden. Vorigen März war, ohne daß der
mindeste Grund dazu vorhanden war, eine ganz ähnliche Fabel im Umlauf.

Seit Anfang dieses Jahres ist Gold und Silber in den südlichen Pro¬
vinzen sehr selten geworden, obgleich ersteres vorigen Herbst reichlich vorhanden
war. Dieser Mangel an baarem Gelde läßt sich durch den Umstand erklären,
daß die Kaufleute ihre Capitalien aus dem Verkehr ziehen. Da wenige der¬
selben auf das Papiergeld Vertrauen setzen, so zogen sie das damals sehr
reichlich vorhandene Gold vor, welches auf diese Weise in wenig Wochen ver¬
schwand. Einer meiner Freunde, der im Februar in Simpheropol war, mußte
bei dem Umwechseln einer Hundertrubelnvte in Noten von einem, drei, und
fünf Rubel zehn Procent Agio geben und er versicherte mir, daß, wenn man
eine Kleinigkeit kaufe, deren Werth noch keinen Rubel betrage, der Kaufmann
lieber das Geschäft nicht mache, als baares Geld herausgäbe, obgleich sein
Gewinn an dem Artikel oft nicht weniger als 100 Procent betrage. Diese
Geldklemme rückt allmälig weiter nach Norden vor. In Jekaterinoslaw war
es so im April und in Charkow hielt es im Mai sehr schwer, sich Gold und
kleineres Silbergeld zu verschaffen. Charkow ist ein bedeutender Handelsplatz
und die Hauptstadt der Ukräne. Die Banknotenausgabe ist neuerdings sehr
gesteigert worden. Alles dies beweist, daß sämmtliche finanziellen Kräfte des
Landes aufs äußerste angespannt werden, um den Krieg fortzuführen.

Viele Personen wundern sich über die geringe Anzahl von Todten, welche
die russischen Schlachtberichte angeben; aber jedem, der das russische System
versteht, wird dies ganz natürlich vorkommen. Es ist Sitte, nur einen ge-


und der Franzose ins Gras beißen, während der Engländer sich bereitwillig
dadurch das Leben erkauft, daß er seine Taschen leert. So bildet man die
öffentliche Meinung derer, welche lesen können; die es nicht können, werden
mit noch gröberen Lügen abgespeist. Der Angriff auf das Kloster Solowetzki
im weißen Meere wurde mit großer Schnelligkeit und vielen Zusätzen und
Ausschmückungen von der Priesterschaft durch das Land verbreitet. Wie mir
ein Bauer erzählte, hätten die englischen Barbaren, die weder gegen den hei¬
ligen Ort, noch gegen seine heiligen Bewohner Schonung gekannt hätten, die
Mönche gespießt. Durch solche absichtliche Entstellungen sucht man die Be¬
völkerung zu einem fanatischen Haß gegen die Engländer zu entflammen. Die
Friedensfreunde, wie die Bright und Cobden, sind bei diesen Herren sehr
beliebt und ihre Reden werden von allen russischen Zeitungen auf das ge¬
wissenhafteste übersetzt. Ueberall werden sie als die einzigen wahren Vertreter der
Ansichten der Mehrheit des englischen Volkes dargestellt, so daß die Russen
fest überzeugt sind, die Volksmasse sei zu einem Aufstande reif; und ich bezweifle
gar nicht, daß die vor kurzem in London mit der Polizei vorgekommenen Häke¬
leien in Rußland als eine durch den Druck der Kriegslasten hervorgerufene
ernsthafte Revolution dargestellt werden. Vorigen März war, ohne daß der
mindeste Grund dazu vorhanden war, eine ganz ähnliche Fabel im Umlauf.

Seit Anfang dieses Jahres ist Gold und Silber in den südlichen Pro¬
vinzen sehr selten geworden, obgleich ersteres vorigen Herbst reichlich vorhanden
war. Dieser Mangel an baarem Gelde läßt sich durch den Umstand erklären,
daß die Kaufleute ihre Capitalien aus dem Verkehr ziehen. Da wenige der¬
selben auf das Papiergeld Vertrauen setzen, so zogen sie das damals sehr
reichlich vorhandene Gold vor, welches auf diese Weise in wenig Wochen ver¬
schwand. Einer meiner Freunde, der im Februar in Simpheropol war, mußte
bei dem Umwechseln einer Hundertrubelnvte in Noten von einem, drei, und
fünf Rubel zehn Procent Agio geben und er versicherte mir, daß, wenn man
eine Kleinigkeit kaufe, deren Werth noch keinen Rubel betrage, der Kaufmann
lieber das Geschäft nicht mache, als baares Geld herausgäbe, obgleich sein
Gewinn an dem Artikel oft nicht weniger als 100 Procent betrage. Diese
Geldklemme rückt allmälig weiter nach Norden vor. In Jekaterinoslaw war
es so im April und in Charkow hielt es im Mai sehr schwer, sich Gold und
kleineres Silbergeld zu verschaffen. Charkow ist ein bedeutender Handelsplatz
und die Hauptstadt der Ukräne. Die Banknotenausgabe ist neuerdings sehr
gesteigert worden. Alles dies beweist, daß sämmtliche finanziellen Kräfte des
Landes aufs äußerste angespannt werden, um den Krieg fortzuführen.

Viele Personen wundern sich über die geringe Anzahl von Todten, welche
die russischen Schlachtberichte angeben; aber jedem, der das russische System
versteht, wird dies ganz natürlich vorkommen. Es ist Sitte, nur einen ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/296>, abgerufen am 04.07.2024.