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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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hatten, daß sie des Sonntags auf den Hauptbörsenplätzen eintraf und die
Leute daher Zeit hatten, sich wenigstens etwas zu besinnen.

Mr. John Francis behandelt in seinem Buche den Ursprung der vor¬
nehmsten Finanzoperationen der londoner Börse, erzählt, unter welchen Ver¬
hältnissen die ewigen Renten emittirt, die ersten Schatzsammerscheine ausgege¬
ben und die ersten Zeitkäufe abgeschlossen wurden und stets sehen wir uns bei
den ersten Schritten in diesen verschiedenen Finanzoperationen in die Zeiten
Wilhelms III. zurückversetzt, denn dieser große Regent strengte die finanziel¬
len Hilfsquellen Englands auf eine bis dahin noch unerhörte Weise an, führte
aber auch dafür England dauernd in die Reihe der Großmächte ein. Auch den
Lotterien widmet Francis ein Capitel, obgleich sie streng genommen auf die Börse
keinen Einfluß haben. Die erste in England nach dem Beispiel der Genuesen und
der päpstlichen Negierung organisirte Lotterie wurde -Is99 gezogen. Der daraus
gewonnene Ueberschuß wurde zur Ausbesserung der Häfen und Befestigungen
Englands verwendet, ein schlagendes Zeichen von der Naivetät der finanziellen
Anschauungen jener Zeit. -1620 unterdrückte man die Lotterien wegen ihrer ent¬
sittlichenden Wirkung; der ewig des Geldes bedürftige Karl I. aber stellte sie
wieder her und Karl II. gab ihnen noch größere Ausdehnung und machte sie
durch die Ausgabe von Loosen für einen Penny allen Classen zugänglich.
Wilhelm III. verschmähte nicht, aus denselben Quellen zu schöpfen, wie die
Stuarts. 169t verschaffte er sich eine Million Pfund Sterling Vermittelsteiner
Lotterie, deren Loose nach Ablauf von 16 Jahren sich in eine vierprocentige
Rente verwandeln sollten. Die Leidenschaft des Lotteriespieles steigerte sich
mit jedem Jahrhunderte. Im Jahr -1772 hatte die Spielwuth ihre heftigste
Krisis erreicht. Schmiede, Hutmacher, Austernhändler, Thee- und Taback¬
läden, Speisewirthe zeigten an, daß man bei ihnen gegen einen Einsatz
von einem viertel oder einem halben Schilling eine Weste, einen Hut, ein
Pfund Thee oder eine mit so und soviel Geld einzulösende Marke gewinnen
könne. Die Leidenschaft verbreitete sich bald über das ganze Land. Die
Lotterien mit ganz kleinen Einsalzen brachten natürlich, da sie sich an die große
Masse des Volkes wendeten, die nachtheiligsten Wirkungen hervor. Einmal
las man über einem Wurstladen in einem der ärmlichsten Theile Londons:
"Hier kann für einen Farthing (zwei Pfennige) Wurst der vom Glück be¬
günstigte Käufer ein Capital von fünf Schilling (einen Species) gewinnen."
"Mein ganzes Haus/' schreibt ein Schriftsteller jener Zeit, "ist von der
Lotteriewuth angesteckt, selbst meine Küchenmagd und ein kleiner Stalljunge,
den ich habe, versetzen ihre Sachen, um ihr Glück zu versuchen." Vergebens
sprachen sich viele einflußreiche und einsichtige Männer gegen das Unwesen
aus; der Staat bedürfte außerordentlicher Mittel und die Finanzwissenschaft
jener Zeit wußte auf keine schnellere Weise eine so reichlich fließende Hilfsquelle


hatten, daß sie des Sonntags auf den Hauptbörsenplätzen eintraf und die
Leute daher Zeit hatten, sich wenigstens etwas zu besinnen.

Mr. John Francis behandelt in seinem Buche den Ursprung der vor¬
nehmsten Finanzoperationen der londoner Börse, erzählt, unter welchen Ver¬
hältnissen die ewigen Renten emittirt, die ersten Schatzsammerscheine ausgege¬
ben und die ersten Zeitkäufe abgeschlossen wurden und stets sehen wir uns bei
den ersten Schritten in diesen verschiedenen Finanzoperationen in die Zeiten
Wilhelms III. zurückversetzt, denn dieser große Regent strengte die finanziel¬
len Hilfsquellen Englands auf eine bis dahin noch unerhörte Weise an, führte
aber auch dafür England dauernd in die Reihe der Großmächte ein. Auch den
Lotterien widmet Francis ein Capitel, obgleich sie streng genommen auf die Börse
keinen Einfluß haben. Die erste in England nach dem Beispiel der Genuesen und
der päpstlichen Negierung organisirte Lotterie wurde -Is99 gezogen. Der daraus
gewonnene Ueberschuß wurde zur Ausbesserung der Häfen und Befestigungen
Englands verwendet, ein schlagendes Zeichen von der Naivetät der finanziellen
Anschauungen jener Zeit. -1620 unterdrückte man die Lotterien wegen ihrer ent¬
sittlichenden Wirkung; der ewig des Geldes bedürftige Karl I. aber stellte sie
wieder her und Karl II. gab ihnen noch größere Ausdehnung und machte sie
durch die Ausgabe von Loosen für einen Penny allen Classen zugänglich.
Wilhelm III. verschmähte nicht, aus denselben Quellen zu schöpfen, wie die
Stuarts. 169t verschaffte er sich eine Million Pfund Sterling Vermittelsteiner
Lotterie, deren Loose nach Ablauf von 16 Jahren sich in eine vierprocentige
Rente verwandeln sollten. Die Leidenschaft des Lotteriespieles steigerte sich
mit jedem Jahrhunderte. Im Jahr -1772 hatte die Spielwuth ihre heftigste
Krisis erreicht. Schmiede, Hutmacher, Austernhändler, Thee- und Taback¬
läden, Speisewirthe zeigten an, daß man bei ihnen gegen einen Einsatz
von einem viertel oder einem halben Schilling eine Weste, einen Hut, ein
Pfund Thee oder eine mit so und soviel Geld einzulösende Marke gewinnen
könne. Die Leidenschaft verbreitete sich bald über das ganze Land. Die
Lotterien mit ganz kleinen Einsalzen brachten natürlich, da sie sich an die große
Masse des Volkes wendeten, die nachtheiligsten Wirkungen hervor. Einmal
las man über einem Wurstladen in einem der ärmlichsten Theile Londons:
„Hier kann für einen Farthing (zwei Pfennige) Wurst der vom Glück be¬
günstigte Käufer ein Capital von fünf Schilling (einen Species) gewinnen."
„Mein ganzes Haus/' schreibt ein Schriftsteller jener Zeit, „ist von der
Lotteriewuth angesteckt, selbst meine Küchenmagd und ein kleiner Stalljunge,
den ich habe, versetzen ihre Sachen, um ihr Glück zu versuchen." Vergebens
sprachen sich viele einflußreiche und einsichtige Männer gegen das Unwesen
aus; der Staat bedürfte außerordentlicher Mittel und die Finanzwissenschaft
jener Zeit wußte auf keine schnellere Weise eine so reichlich fließende Hilfsquelle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/270>, abgerufen am 22.07.2024.