Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.Schöpfung des Künstlers erst dann zur wahren Befriedigung und poetischen Hatte uns Hiller den Frühling nur von ferne gezeigt, so erblühte dieser Schöpfung des Künstlers erst dann zur wahren Befriedigung und poetischen Hatte uns Hiller den Frühling nur von ferne gezeigt, so erblühte dieser <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0020" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99940"/> <p xml:id="ID_30" prev="#ID_29"> Schöpfung des Künstlers erst dann zur wahren Befriedigung und poetischen<lb/> Reinigung erhebt, wenn sie uns das Ziel erreichen läßt, auf welches alle jene<lb/> Kämpfe und Bestrebungen hinweisen. Und wer weiß es besser als der Musiker,<lb/> daß, je schärfere Dissonanzen er anschlägt, je länger er sie festhält, er um so<lb/> bestimmter und entschiedener auch die Auflösung eintreten und solange aus¬<lb/> klingen lassen muß, daß der Hörer zum vollständigen Gefühl der neu gewon¬<lb/> nenen Harmonie gelangt. Eine naheliegende Analogie bot grade hier die<lb/> dmvll Symphonie, diese musikalische Darstellung des kategorischen Imperativs.<lb/> Wenn Beethoven ihr ein Motto hätte geben wollen, er hätte vielleicht darüber<lb/> geschrieben: „Wir müssen doch frei werden!" Welcher Kampf gegen Sturm<lb/> und Ungemach, aber auch welche Siegesfreude, welcher Triumph. Vergleicht<lb/> man damit die neunte Synfonie, so drückt diese den Riesenkampf einer großen<lb/> Seele gegen die zur Selbstvernichtung drängende Verzweiflung in erschüttern¬<lb/> der Großartigkeit aus, allein die Rettung, indem sie sich zur edelsten, reinsten<lb/> Freude erhebt, in der entsprechenden Weise darzustellen, ist dem Meister nicht<lb/> gelungen. Wer seinem Lebensgang und der dadurch bedingten Entwicklung<lb/> aufmerksam folgt, wird sich das Resultat derselben wol erklären und begreifen,<lb/> daß dasselbe kein anderes sein konnte; diese historische Erkenntniß beeinträchtigt<lb/> aber das ästhetische Urtheil über das Kunstwerk nicht. Doch diese Be¬<lb/> trachtung hat uns zu weit von der Hillerschen Synfonie weggeführt, an<lb/> welche sie angeknüpft wurde. Wenn dieselbe uns auch nicht zu einer völlig<lb/> klaren Heiterkeit leitet, so versenkt sie uns auch nicht so tief in labyrinthisches<lb/> Grübeln und Selbstquälen. Sie vergegenwärtigt uns vielmehr einen tüchtigen<lb/> gesunden Menschen, der mit entschlossenem Sein und frischer Kraft sich durchs<lb/> Leben schlagen will, und dem man schon zutraut, daß eS.ihm wieder gut gehen<lb/> wird, wenn man es auch nicht gleich erlebt. Die Synfonie ist breit angelegt<lb/> und ausgeführt und vertrug deshalb die massenhafte Besetzung ebensowol, als<lb/> sie durch Erlist und Tüchtigkeit für ein Musikfest geeignet erschien. Daß sie<lb/> sorgfältig einstudirt war und mit Feuer und Leben gespielt wurde, versteht sich<lb/> von selbst; den Eomponisten und Dirigenten begrüßte lauter Beifall, in den<lb/> auch das Orchester mit einem Tusch einfiel.</p><lb/> <p xml:id="ID_31" next="#ID_32"> Hatte uns Hiller den Frühling nur von ferne gezeigt, so erblühte dieser<lb/> in Haydns Schöpfung zu voller Pracht. Die Musiker deS^ entschieden^<lb/> Fortschritts, welche mit Berlioz für das erste Erfordenuß zeitgemäßer Musik<lb/> halten, daß sie übel klinge und allen Betheiligten schmerzliche Empfindungen<lb/> bereite, werden in der Wahl der Schöpfung ein beklagenswerthes Symptom des<lb/> bornirten Zopfthums erkennen. Die Fraction der musikalischen Welt, welche in<lb/> Düsseldorf versammelt war, schien in einer an Einstimmigkeit grenzenden<lb/> Majorität der entgegengesetzten Ansicht zu sein. „Und Gott sah, daß es<lb/> gut war." Das ist der Grundton, der die ganze Schöpfung durchklingt, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
Schöpfung des Künstlers erst dann zur wahren Befriedigung und poetischen
Reinigung erhebt, wenn sie uns das Ziel erreichen läßt, auf welches alle jene
Kämpfe und Bestrebungen hinweisen. Und wer weiß es besser als der Musiker,
daß, je schärfere Dissonanzen er anschlägt, je länger er sie festhält, er um so
bestimmter und entschiedener auch die Auflösung eintreten und solange aus¬
klingen lassen muß, daß der Hörer zum vollständigen Gefühl der neu gewon¬
nenen Harmonie gelangt. Eine naheliegende Analogie bot grade hier die
dmvll Symphonie, diese musikalische Darstellung des kategorischen Imperativs.
Wenn Beethoven ihr ein Motto hätte geben wollen, er hätte vielleicht darüber
geschrieben: „Wir müssen doch frei werden!" Welcher Kampf gegen Sturm
und Ungemach, aber auch welche Siegesfreude, welcher Triumph. Vergleicht
man damit die neunte Synfonie, so drückt diese den Riesenkampf einer großen
Seele gegen die zur Selbstvernichtung drängende Verzweiflung in erschüttern¬
der Großartigkeit aus, allein die Rettung, indem sie sich zur edelsten, reinsten
Freude erhebt, in der entsprechenden Weise darzustellen, ist dem Meister nicht
gelungen. Wer seinem Lebensgang und der dadurch bedingten Entwicklung
aufmerksam folgt, wird sich das Resultat derselben wol erklären und begreifen,
daß dasselbe kein anderes sein konnte; diese historische Erkenntniß beeinträchtigt
aber das ästhetische Urtheil über das Kunstwerk nicht. Doch diese Be¬
trachtung hat uns zu weit von der Hillerschen Synfonie weggeführt, an
welche sie angeknüpft wurde. Wenn dieselbe uns auch nicht zu einer völlig
klaren Heiterkeit leitet, so versenkt sie uns auch nicht so tief in labyrinthisches
Grübeln und Selbstquälen. Sie vergegenwärtigt uns vielmehr einen tüchtigen
gesunden Menschen, der mit entschlossenem Sein und frischer Kraft sich durchs
Leben schlagen will, und dem man schon zutraut, daß eS.ihm wieder gut gehen
wird, wenn man es auch nicht gleich erlebt. Die Synfonie ist breit angelegt
und ausgeführt und vertrug deshalb die massenhafte Besetzung ebensowol, als
sie durch Erlist und Tüchtigkeit für ein Musikfest geeignet erschien. Daß sie
sorgfältig einstudirt war und mit Feuer und Leben gespielt wurde, versteht sich
von selbst; den Eomponisten und Dirigenten begrüßte lauter Beifall, in den
auch das Orchester mit einem Tusch einfiel.
Hatte uns Hiller den Frühling nur von ferne gezeigt, so erblühte dieser
in Haydns Schöpfung zu voller Pracht. Die Musiker deS^ entschieden^
Fortschritts, welche mit Berlioz für das erste Erfordenuß zeitgemäßer Musik
halten, daß sie übel klinge und allen Betheiligten schmerzliche Empfindungen
bereite, werden in der Wahl der Schöpfung ein beklagenswerthes Symptom des
bornirten Zopfthums erkennen. Die Fraction der musikalischen Welt, welche in
Düsseldorf versammelt war, schien in einer an Einstimmigkeit grenzenden
Majorität der entgegengesetzten Ansicht zu sein. „Und Gott sah, daß es
gut war." Das ist der Grundton, der die ganze Schöpfung durchklingt, die
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