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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Berechtigung, nach dem Abbruch der wiener Conferenzen aus dem Bündniß
mit den Westmächten herauszutreten, kann man Oestreich nicht bestreiten. An¬
ders ist es freilich, wenn man von dem Buchstaben absieht, das bisherige
Verhalten Oestreichs in Zusammenhang bringt und sich daraus eine leitende
politische Idee zu abstrahiren sucht. Von diesem Gesichtspunkt wird man wol be¬
haupten dürfen, daß Oestreich die begründeten Erwartungen Europas getäuscht
hat.

Nicht in dem Sinn, wie man es gewöhnlich nimmt. Bei der allgemei¬
nen Abneigung gegen das Princip des östreichischen Staats gab es schon im
vorigen Jahr viele, welche behaupteten, Oestreich suche die öffentliche Meinung
nur zu täuschen, es sei ihm mit dem Bündniß mit den Westmachten kein Ernst.
Diese Propheten glauben jetzt triumphiren zu können und construiren sich
in die Thätigkeit Oestreichs einen macchiavellistischen Plan hinein. Wir ha¬
ben damals diese Ansicht nicht getheilt, wir können sie auch dies Mal nicht
zugeben; nicht weil wir auf die Ehrlichkeit dieses oder jenes Staatsmannes ein
zu großes Gewicht legen, sondern erstens, weil wir das frühere Verhalten
Oestreichs durchaus natürlich fanden, zweitens, weil der jetzige Umschlag uns
auch sehr begreiflich ist und drittens, weil es absolut unmöglich ist, sür das
eine und das andere im Zusammenhang einen Plan, eine geheime Absicht
vorauszusetzen, die nur einigermaßen mit dem gesunden Menschenverstand in
Einklang zu bringen wäre.

Oestreichs Verhalten vom Beginn der orientalischen Krisis bis zum Schluß
der wiener Conferenzen war natürlich, denn es war durchaus im Sinn der
alten traditionellen Politik. Oestreich ist mehr als irgendein andrer Staat
bedroht, wenn die Türkei in russische Hände fällt, denn ein großer Theil seiner
Völkerschaften ist tausendfältig mit den türkischen Völkerschaften verflochten.
Solange ihm das schwache türkische Reich gegenübersteht, kann es hoffen,
diese Lage zu seinem eignen Vortheil auszubeuten; wenn aber diese Provinzen
in russischen Händen sind, so wird ihm ein Keil nach dem andern in sein
Inneres eingeschlagen werden. -- Außerdem war durch das Ende des ungari¬
schen Feldzugs Oestreich in ein drückendes Abhängigkeitsverhältniß zu Rußland
getreten und dieses abzuschütteln, mußte als eine der dringendsten Ausgaben
des regenerirten Staats betrachtet werden. -- Auf der andern Seite mußten
aber auch viel Rücksichten genommen werden. Das persönliche Verhältniß
zum Kaiser Nikolaus erheischte Schonung und die Lage Oestreichs in einem
offnen Kriege gegen Rußland war ungleich bedenklicher, als die der Westmächte.
Vor allem kam es darauf an, sich durch Preußen und das übrige Deutschland
den Rücken decken zu lassen. Alle diese Motive kamen hintereinander ins Spiel,
doch so, daß ein folgerichtiges Weitergehen bemerkbar war. Oestreichs Be¬
streben war natürlich, soviel als möglich zu gewinnen und sowenig als möglich


Berechtigung, nach dem Abbruch der wiener Conferenzen aus dem Bündniß
mit den Westmächten herauszutreten, kann man Oestreich nicht bestreiten. An¬
ders ist es freilich, wenn man von dem Buchstaben absieht, das bisherige
Verhalten Oestreichs in Zusammenhang bringt und sich daraus eine leitende
politische Idee zu abstrahiren sucht. Von diesem Gesichtspunkt wird man wol be¬
haupten dürfen, daß Oestreich die begründeten Erwartungen Europas getäuscht
hat.

Nicht in dem Sinn, wie man es gewöhnlich nimmt. Bei der allgemei¬
nen Abneigung gegen das Princip des östreichischen Staats gab es schon im
vorigen Jahr viele, welche behaupteten, Oestreich suche die öffentliche Meinung
nur zu täuschen, es sei ihm mit dem Bündniß mit den Westmachten kein Ernst.
Diese Propheten glauben jetzt triumphiren zu können und construiren sich
in die Thätigkeit Oestreichs einen macchiavellistischen Plan hinein. Wir ha¬
ben damals diese Ansicht nicht getheilt, wir können sie auch dies Mal nicht
zugeben; nicht weil wir auf die Ehrlichkeit dieses oder jenes Staatsmannes ein
zu großes Gewicht legen, sondern erstens, weil wir das frühere Verhalten
Oestreichs durchaus natürlich fanden, zweitens, weil der jetzige Umschlag uns
auch sehr begreiflich ist und drittens, weil es absolut unmöglich ist, sür das
eine und das andere im Zusammenhang einen Plan, eine geheime Absicht
vorauszusetzen, die nur einigermaßen mit dem gesunden Menschenverstand in
Einklang zu bringen wäre.

Oestreichs Verhalten vom Beginn der orientalischen Krisis bis zum Schluß
der wiener Conferenzen war natürlich, denn es war durchaus im Sinn der
alten traditionellen Politik. Oestreich ist mehr als irgendein andrer Staat
bedroht, wenn die Türkei in russische Hände fällt, denn ein großer Theil seiner
Völkerschaften ist tausendfältig mit den türkischen Völkerschaften verflochten.
Solange ihm das schwache türkische Reich gegenübersteht, kann es hoffen,
diese Lage zu seinem eignen Vortheil auszubeuten; wenn aber diese Provinzen
in russischen Händen sind, so wird ihm ein Keil nach dem andern in sein
Inneres eingeschlagen werden. — Außerdem war durch das Ende des ungari¬
schen Feldzugs Oestreich in ein drückendes Abhängigkeitsverhältniß zu Rußland
getreten und dieses abzuschütteln, mußte als eine der dringendsten Ausgaben
des regenerirten Staats betrachtet werden. — Auf der andern Seite mußten
aber auch viel Rücksichten genommen werden. Das persönliche Verhältniß
zum Kaiser Nikolaus erheischte Schonung und die Lage Oestreichs in einem
offnen Kriege gegen Rußland war ungleich bedenklicher, als die der Westmächte.
Vor allem kam es darauf an, sich durch Preußen und das übrige Deutschland
den Rücken decken zu lassen. Alle diese Motive kamen hintereinander ins Spiel,
doch so, daß ein folgerichtiges Weitergehen bemerkbar war. Oestreichs Be¬
streben war natürlich, soviel als möglich zu gewinnen und sowenig als möglich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/170>, abgerufen am 22.07.2024.