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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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eine Bezauberung, dann die unerhörte Verhöhnung n. s. w. die Erfüllung der Verwünschungs-
bcdingnng. --

Die Geschichte Christi ist ebenso gewiß ein Gedicht wie eine Geschichte; und überhaupt ist
nur die Geschichte eine Geschichte, die auch Fabel sein kann. --

Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais-'

Aberwas sah er? -- Er sah. Wunder des Wunders, sich selbst.

Noch ist keine Religion. Man muß eine Bilduiigsschule echter Religion erst stiften.

Das Lamentable unsrer Kirchenmusik ist blos der Religion, der Buße, dein alten Testa¬
ment, angemessen, in dem wir eigentlich noch sind. Das neue Testament ist uns noch ein Buch
mit sieben Siegeln.

Wie vermeidet man bei Darstellung des Vollkommenen die Langeweile? Die Betrachtung
Gottes scheint als eine religiöse Untersuchung zu monoton -- man erinnere sich an die voll¬
kommenen Charakter in Schauspielen, an die Trockenheit eines echten rein philosophischen
oder mathematischen Systems n. s- w. So ist selbst die Betrachtung Jesu ermüdend --- die
Predigt muß pantheistisch sein, angewandte, individuelle Religion, individualisirte Theologie
enthalten. --

Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist, als Zeuguugselement der Religion,
eine als Mittlerlhnm überhaupt, als Glaube an die Allfähigteil alles Irdische", Wein und
Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine als Glaube a" Christas, seine Mutter und die
Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen
und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlichen Gemeinde. Angewandtes, lebeudig-
gewordcnes Christenthum war der alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine
Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit
seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mittheilsamkeit, seine Freude an Armuth, Gehorsam
und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar, und entHallen die Grundzüge seiner
Verfassung. Er ist gereinigt durch den Strom der Zeiten; in inniger, nntheilbarer Verbin¬
dung mit den beide" andern Gestalten des Christenthums wird er ewig diesen Erdboden be¬
glücken. Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet; das alte Papstthum liegt im Grabe,
und Rom ist zum zweiten Mal eine Ruine geworden. Soll der Protestantismus uicht endlich
aufhören und einer neue", dauerhafte" Kirche Platz machen? Die andern Welttheile warten
auf Europas Versöhnung und Auferstehung, uni sich anzuschließen, und Mitbürger des Himmel¬
reichs zu werden. -- --


Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir behaupten, daß unter sämmt¬
lichen christlichen Religionsparteien sich keine finden wird, welche diese Sätze
als ihr Symbol anerkennen möchte, wie überraschend fein auch einzelne Be¬
merkungen sind. Der christlichen Kirche ist durch dergleichen geistreiche, tiefe,
aber immer doch nur individuelle Selbstbetrachtungen vielweniger genutzt
worden, als durch die praktisch-sittliche Entwicklung ihrer äußerlichen Ordnun¬
gen, von welchem Zweige des großen Baumes dieselben auch ausgehen
mochten.





"> Werke II. S, 2S4-S8. S. zso, S. "SS--SS. III. S. log. S, 2S7.
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eine Bezauberung, dann die unerhörte Verhöhnung n. s. w. die Erfüllung der Verwünschungs-
bcdingnng. —

Die Geschichte Christi ist ebenso gewiß ein Gedicht wie eine Geschichte; und überhaupt ist
nur die Geschichte eine Geschichte, die auch Fabel sein kann. —

Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais-'

Aberwas sah er? — Er sah. Wunder des Wunders, sich selbst.

Noch ist keine Religion. Man muß eine Bilduiigsschule echter Religion erst stiften.

Das Lamentable unsrer Kirchenmusik ist blos der Religion, der Buße, dein alten Testa¬
ment, angemessen, in dem wir eigentlich noch sind. Das neue Testament ist uns noch ein Buch
mit sieben Siegeln.

Wie vermeidet man bei Darstellung des Vollkommenen die Langeweile? Die Betrachtung
Gottes scheint als eine religiöse Untersuchung zu monoton — man erinnere sich an die voll¬
kommenen Charakter in Schauspielen, an die Trockenheit eines echten rein philosophischen
oder mathematischen Systems n. s- w. So ist selbst die Betrachtung Jesu ermüdend -— die
Predigt muß pantheistisch sein, angewandte, individuelle Religion, individualisirte Theologie
enthalten. —

Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist, als Zeuguugselement der Religion,
eine als Mittlerlhnm überhaupt, als Glaube an die Allfähigteil alles Irdische», Wein und
Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine als Glaube a» Christas, seine Mutter und die
Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen
und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlichen Gemeinde. Angewandtes, lebeudig-
gewordcnes Christenthum war der alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine
Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit
seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mittheilsamkeit, seine Freude an Armuth, Gehorsam
und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar, und entHallen die Grundzüge seiner
Verfassung. Er ist gereinigt durch den Strom der Zeiten; in inniger, nntheilbarer Verbin¬
dung mit den beide» andern Gestalten des Christenthums wird er ewig diesen Erdboden be¬
glücken. Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet; das alte Papstthum liegt im Grabe,
und Rom ist zum zweiten Mal eine Ruine geworden. Soll der Protestantismus uicht endlich
aufhören und einer neue», dauerhafte» Kirche Platz machen? Die andern Welttheile warten
auf Europas Versöhnung und Auferstehung, uni sich anzuschließen, und Mitbürger des Himmel¬
reichs zu werden. — —


Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir behaupten, daß unter sämmt¬
lichen christlichen Religionsparteien sich keine finden wird, welche diese Sätze
als ihr Symbol anerkennen möchte, wie überraschend fein auch einzelne Be¬
merkungen sind. Der christlichen Kirche ist durch dergleichen geistreiche, tiefe,
aber immer doch nur individuelle Selbstbetrachtungen vielweniger genutzt
worden, als durch die praktisch-sittliche Entwicklung ihrer äußerlichen Ordnun¬
gen, von welchem Zweige des großen Baumes dieselben auch ausgehen
mochten.





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[0139] eine Bezauberung, dann die unerhörte Verhöhnung n. s. w. die Erfüllung der Verwünschungs- bcdingnng. — Die Geschichte Christi ist ebenso gewiß ein Gedicht wie eine Geschichte; und überhaupt ist nur die Geschichte eine Geschichte, die auch Fabel sein kann. — Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais-' Aberwas sah er? — Er sah. Wunder des Wunders, sich selbst. Noch ist keine Religion. Man muß eine Bilduiigsschule echter Religion erst stiften. Das Lamentable unsrer Kirchenmusik ist blos der Religion, der Buße, dein alten Testa¬ ment, angemessen, in dem wir eigentlich noch sind. Das neue Testament ist uns noch ein Buch mit sieben Siegeln. Wie vermeidet man bei Darstellung des Vollkommenen die Langeweile? Die Betrachtung Gottes scheint als eine religiöse Untersuchung zu monoton — man erinnere sich an die voll¬ kommenen Charakter in Schauspielen, an die Trockenheit eines echten rein philosophischen oder mathematischen Systems n. s- w. So ist selbst die Betrachtung Jesu ermüdend -— die Predigt muß pantheistisch sein, angewandte, individuelle Religion, individualisirte Theologie enthalten. — Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist, als Zeuguugselement der Religion, eine als Mittlerlhnm überhaupt, als Glaube an die Allfähigteil alles Irdische», Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine als Glaube a» Christas, seine Mutter und die Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlichen Gemeinde. Angewandtes, lebeudig- gewordcnes Christenthum war der alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mittheilsamkeit, seine Freude an Armuth, Gehorsam und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar, und entHallen die Grundzüge seiner Verfassung. Er ist gereinigt durch den Strom der Zeiten; in inniger, nntheilbarer Verbin¬ dung mit den beide» andern Gestalten des Christenthums wird er ewig diesen Erdboden be¬ glücken. Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet; das alte Papstthum liegt im Grabe, und Rom ist zum zweiten Mal eine Ruine geworden. Soll der Protestantismus uicht endlich aufhören und einer neue», dauerhafte» Kirche Platz machen? Die andern Welttheile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, uni sich anzuschließen, und Mitbürger des Himmel¬ reichs zu werden. — — Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir behaupten, daß unter sämmt¬ lichen christlichen Religionsparteien sich keine finden wird, welche diese Sätze als ihr Symbol anerkennen möchte, wie überraschend fein auch einzelne Be¬ merkungen sind. Der christlichen Kirche ist durch dergleichen geistreiche, tiefe, aber immer doch nur individuelle Selbstbetrachtungen vielweniger genutzt worden, als durch die praktisch-sittliche Entwicklung ihrer äußerlichen Ordnun¬ gen, von welchem Zweige des großen Baumes dieselben auch ausgehen mochten. "> Werke II. S, 2S4-S8. S. zso, S. »SS—SS. III. S. log. S, 2S7. -17"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/139>, abgerufen am 22.12.2024.