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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Bewaffnung und Fechtart der Infanterie charakterisirt wird. Die erstere reicht
bis zur Mitte der dreißiger Jahre, und ihr gehört die Einführung eines erleich¬
terten Feldartilleriematerials, die Erfindung der Shrcpnellgranaten und der
Bombenkanonen, endlich die Einführung der Raketen in mehren Armeen, denen
sie noch fremd waren, an. Der zweite Zeitraum dagegen hat als sein Eigen¬
thum die Spitzkugelbüchse und das Zündnadelgewehr (andre verbesserte Hand¬
feuerwaffen hier gar nicht zu nennen) anzusprechen. Es verdient Erwähnung,
daß man um 1833 und noch spater der Meinung hier und dort huldigte: die
Artillerie habe ihre taktische Entscheidungsgewalt dermaßen gesteigert, daß nun¬
mehr die andern Waffen ihr nicht mehr in geschlossenen Formationen würden
entgegenzutreten vermögen. Als die Büchse in Gebrauch gekommen war, welche
weiter als die Kartätschwirkung der Feldkanonen reichte (nämlich über tausend
Schritt, während diese nur sich bis achthundert ausdehnt), bereitete sich ein
Umschlag vor, und derselbe wurde entschieden, als das Zündnadelgewehr die
Möglichkeit nachwies, abgesehen von den Jägern das Gros der ganzen Infan¬
terie mit auf Kartätschschußweite wirksamen Gewehren zu bewaffnen.

Es liegt in der Natur des russischen Reiches, daß es mit seinen Einrich¬
tungen, mögen sich dieselben auf diesen oder- jenen Zweig der Staatsvorsorge
beziehen, stets hinter denen des westlichen Europn sich zurück befinden muß.
Die Schwierigkeiten, welche der Ein- und Durchführung von Neuerungen dort
entgegenstehen, sind größer: es gibt weniger Glieder der Vermittlung zwischen
den den Gedanken angehenden und leitenden Geistern und denjenigen Kräften, wel¬
chen die Ausführung des roheren Details zufällt, die Beaufsichtigung ist geringer,
der Mißbrauch größer, der Widerwille gegen das Fremde und Nichteinheimische
selbst mit in Anschlag zu bringen. So geschah es, daß die russische Artillerie
seit den napoleonischen Kriegen noch wenig Fortschritte gemacht hatte, als die
große reformatorische Epoche für das Geschützwesen in den übrigen Staaten
bereits am Ende war. Ich berufe mich hierbei auf das Urtheil derer, welche
Gelegenheit hatten, die zarische Artillerie vor zwanzig Jahren in dem gro߬
artigen Lustlager von Kalisch zu sehen. Die preußische Artillerie hatte damals
ebenfalls noch ihre schweren Wandlaffeten (sie wurden'erst seit -I8i1 erleichtert,
und zwar konnte diese Reform erst zehn Jahre darnach als vollendet angesehen
werden. Dem Verfasser sind die Gründe durchaus unzugänglich, um deren
willen man nur ein erleichtertes Wandlaffctensystem anstatt des ungleich bes¬
seren und in sich so konsequenten und militärisch-logischen Blocklaffetensystems
einführte); aber dermaßen muß "dennoch die russische Feldartillerie jener an
Beweglichkeit bei den verschiedenen Vcrgleichungsmanövrcs nachgestanden haben,
daß der Kaiser Nikolaus von dem großen Erercierfelde bei Kalisch her den Ge¬
danken mit in seinen Winterpalast zurückbrachte: sein Aren l cri e w eher von
Grund aus zu reformiren. Man kann ihm die Anerkennung nicht ver-


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Bewaffnung und Fechtart der Infanterie charakterisirt wird. Die erstere reicht
bis zur Mitte der dreißiger Jahre, und ihr gehört die Einführung eines erleich¬
terten Feldartilleriematerials, die Erfindung der Shrcpnellgranaten und der
Bombenkanonen, endlich die Einführung der Raketen in mehren Armeen, denen
sie noch fremd waren, an. Der zweite Zeitraum dagegen hat als sein Eigen¬
thum die Spitzkugelbüchse und das Zündnadelgewehr (andre verbesserte Hand¬
feuerwaffen hier gar nicht zu nennen) anzusprechen. Es verdient Erwähnung,
daß man um 1833 und noch spater der Meinung hier und dort huldigte: die
Artillerie habe ihre taktische Entscheidungsgewalt dermaßen gesteigert, daß nun¬
mehr die andern Waffen ihr nicht mehr in geschlossenen Formationen würden
entgegenzutreten vermögen. Als die Büchse in Gebrauch gekommen war, welche
weiter als die Kartätschwirkung der Feldkanonen reichte (nämlich über tausend
Schritt, während diese nur sich bis achthundert ausdehnt), bereitete sich ein
Umschlag vor, und derselbe wurde entschieden, als das Zündnadelgewehr die
Möglichkeit nachwies, abgesehen von den Jägern das Gros der ganzen Infan¬
terie mit auf Kartätschschußweite wirksamen Gewehren zu bewaffnen.

Es liegt in der Natur des russischen Reiches, daß es mit seinen Einrich¬
tungen, mögen sich dieselben auf diesen oder- jenen Zweig der Staatsvorsorge
beziehen, stets hinter denen des westlichen Europn sich zurück befinden muß.
Die Schwierigkeiten, welche der Ein- und Durchführung von Neuerungen dort
entgegenstehen, sind größer: es gibt weniger Glieder der Vermittlung zwischen
den den Gedanken angehenden und leitenden Geistern und denjenigen Kräften, wel¬
chen die Ausführung des roheren Details zufällt, die Beaufsichtigung ist geringer,
der Mißbrauch größer, der Widerwille gegen das Fremde und Nichteinheimische
selbst mit in Anschlag zu bringen. So geschah es, daß die russische Artillerie
seit den napoleonischen Kriegen noch wenig Fortschritte gemacht hatte, als die
große reformatorische Epoche für das Geschützwesen in den übrigen Staaten
bereits am Ende war. Ich berufe mich hierbei auf das Urtheil derer, welche
Gelegenheit hatten, die zarische Artillerie vor zwanzig Jahren in dem gro߬
artigen Lustlager von Kalisch zu sehen. Die preußische Artillerie hatte damals
ebenfalls noch ihre schweren Wandlaffeten (sie wurden'erst seit -I8i1 erleichtert,
und zwar konnte diese Reform erst zehn Jahre darnach als vollendet angesehen
werden. Dem Verfasser sind die Gründe durchaus unzugänglich, um deren
willen man nur ein erleichtertes Wandlaffctensystem anstatt des ungleich bes¬
seren und in sich so konsequenten und militärisch-logischen Blocklaffetensystems
einführte); aber dermaßen muß "dennoch die russische Feldartillerie jener an
Beweglichkeit bei den verschiedenen Vcrgleichungsmanövrcs nachgestanden haben,
daß der Kaiser Nikolaus von dem großen Erercierfelde bei Kalisch her den Ge¬
danken mit in seinen Winterpalast zurückbrachte: sein Aren l cri e w eher von
Grund aus zu reformiren. Man kann ihm die Anerkennung nicht ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/67>, abgerufen am 26.06.2024.