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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Lande, die schon die Beschreibungen des Vaters in dem Knaben hervorgerufen
hatten, und die den rührendsten Ausdruck in dem bekannten Liede der Mignon
gewinnt, spricht sich schon in der Liebe Werthers zum Homer aus, die mit
der Liebe zur Kinderwelt und zur Natur überhaupt Hand in Hand geht; sie
athmet ebenso in dem Klagelied, mit welchem Iphigenie beginnt:


-- -- mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem User steh ich lange Tage
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.

Diese Stimmung änderte sich mit der Reise nach Italien; aus der Sehnsucht
wurde Erfüllung, unbefangener Genuß und freier Gebrauch der verwandten Kräfte.

Die deutschen Lieder aus Goethes Jugend, die schönsten, die je ein Volk
gedichtet, und die als ein Zeugniß unsrer schönen Jugend auf die Nachwelt
übergehen werden, haben fast durchgehends einen leisen Zug von Sehnsucht,
der sie grade so verführerisch macht. Man denke an den Fischer, an Ganymed,
die Lieber der Mignon :c. Der Aufenthalt in Italien lehrte ihn die Poesie
des Genusses. Wenn es uns auf den ersten Augenblick schmerzlich fällt, daß
der Dichter die gewohnte Weise aufgab, in der er noch so Herrliches hätte
leisten können und in der er unmittelbar zum Volk redete, so kann man sich doch
damit trösten, daß diese zweite griechische Jugend ein ebenso schönes Bild ge¬
währt, eine ebenso freie und hohe Poesie entfaltet. Wenn unsere ältern
Dichter das Vorbild des Horaz und Anakreon vor Augen hatten, so stammelten
sie diesen Dichtern nach, ohne sie innerlich zu empfinden; sie erscheinen uns
wie gelehrte Männer, die aus künstlerischen Zwecken einmal in ihrer Empfin¬
dung und Anschauung über die Schnur hauen. Goethe dagegen hatte vom
Feuertrunk der griechischen Muse so stark gekostet, daß in seinen Adern griechi¬
sches Blut klopfte, daß die Vorstellung der Heimath ihm nur wie ein dunkler
Traum vorschwebte.


O wie fühl ich in Rom,mich so froh! gedenk ich der Zeiten,

Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer ans meine Scheitel sich senkte,

Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes

Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank.
Nun umlcuchtet der Glanz des helleren Aethers die Stirne;

Phöbus rufet der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen,

Und mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag.
Weiche Seligkeit ward mir Sterblichen? Traum ich? Empfanget

Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?


Lande, die schon die Beschreibungen des Vaters in dem Knaben hervorgerufen
hatten, und die den rührendsten Ausdruck in dem bekannten Liede der Mignon
gewinnt, spricht sich schon in der Liebe Werthers zum Homer aus, die mit
der Liebe zur Kinderwelt und zur Natur überhaupt Hand in Hand geht; sie
athmet ebenso in dem Klagelied, mit welchem Iphigenie beginnt:


— — mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem User steh ich lange Tage
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.

Diese Stimmung änderte sich mit der Reise nach Italien; aus der Sehnsucht
wurde Erfüllung, unbefangener Genuß und freier Gebrauch der verwandten Kräfte.

Die deutschen Lieder aus Goethes Jugend, die schönsten, die je ein Volk
gedichtet, und die als ein Zeugniß unsrer schönen Jugend auf die Nachwelt
übergehen werden, haben fast durchgehends einen leisen Zug von Sehnsucht,
der sie grade so verführerisch macht. Man denke an den Fischer, an Ganymed,
die Lieber der Mignon :c. Der Aufenthalt in Italien lehrte ihn die Poesie
des Genusses. Wenn es uns auf den ersten Augenblick schmerzlich fällt, daß
der Dichter die gewohnte Weise aufgab, in der er noch so Herrliches hätte
leisten können und in der er unmittelbar zum Volk redete, so kann man sich doch
damit trösten, daß diese zweite griechische Jugend ein ebenso schönes Bild ge¬
währt, eine ebenso freie und hohe Poesie entfaltet. Wenn unsere ältern
Dichter das Vorbild des Horaz und Anakreon vor Augen hatten, so stammelten
sie diesen Dichtern nach, ohne sie innerlich zu empfinden; sie erscheinen uns
wie gelehrte Männer, die aus künstlerischen Zwecken einmal in ihrer Empfin¬
dung und Anschauung über die Schnur hauen. Goethe dagegen hatte vom
Feuertrunk der griechischen Muse so stark gekostet, daß in seinen Adern griechi¬
sches Blut klopfte, daß die Vorstellung der Heimath ihm nur wie ein dunkler
Traum vorschwebte.


O wie fühl ich in Rom,mich so froh! gedenk ich der Zeiten,

Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer ans meine Scheitel sich senkte,

Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes

Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank.
Nun umlcuchtet der Glanz des helleren Aethers die Stirne;

Phöbus rufet der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen,

Und mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag.
Weiche Seligkeit ward mir Sterblichen? Traum ich? Empfanget

Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?


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[0502] Lande, die schon die Beschreibungen des Vaters in dem Knaben hervorgerufen hatten, und die den rührendsten Ausdruck in dem bekannten Liede der Mignon gewinnt, spricht sich schon in der Liebe Werthers zum Homer aus, die mit der Liebe zur Kinderwelt und zur Natur überhaupt Hand in Hand geht; sie athmet ebenso in dem Klagelied, mit welchem Iphigenie beginnt: — — mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem User steh ich lange Tage Das Land der Griechen mit der Seele suchend; Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. Diese Stimmung änderte sich mit der Reise nach Italien; aus der Sehnsucht wurde Erfüllung, unbefangener Genuß und freier Gebrauch der verwandten Kräfte. Die deutschen Lieder aus Goethes Jugend, die schönsten, die je ein Volk gedichtet, und die als ein Zeugniß unsrer schönen Jugend auf die Nachwelt übergehen werden, haben fast durchgehends einen leisen Zug von Sehnsucht, der sie grade so verführerisch macht. Man denke an den Fischer, an Ganymed, die Lieber der Mignon :c. Der Aufenthalt in Italien lehrte ihn die Poesie des Genusses. Wenn es uns auf den ersten Augenblick schmerzlich fällt, daß der Dichter die gewohnte Weise aufgab, in der er noch so Herrliches hätte leisten können und in der er unmittelbar zum Volk redete, so kann man sich doch damit trösten, daß diese zweite griechische Jugend ein ebenso schönes Bild ge¬ währt, eine ebenso freie und hohe Poesie entfaltet. Wenn unsere ältern Dichter das Vorbild des Horaz und Anakreon vor Augen hatten, so stammelten sie diesen Dichtern nach, ohne sie innerlich zu empfinden; sie erscheinen uns wie gelehrte Männer, die aus künstlerischen Zwecken einmal in ihrer Empfin¬ dung und Anschauung über die Schnur hauen. Goethe dagegen hatte vom Feuertrunk der griechischen Muse so stark gekostet, daß in seinen Adern griechi¬ sches Blut klopfte, daß die Vorstellung der Heimath ihm nur wie ein dunkler Traum vorschwebte. O wie fühl ich in Rom,mich so froh! gedenk ich der Zeiten, Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing, Trübe der Himmel und schwer ans meine Scheitel sich senkte, Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag, Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank. Nun umlcuchtet der Glanz des helleren Aethers die Stirne; Phöbus rufet der Gott, Formen und Farben hervor. Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen, Und mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag. Weiche Seligkeit ward mir Sterblichen? Traum ich? Empfanget Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/502>, abgerufen am 03.07.2024.