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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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geht. Die Ideen sind glänzend, der Ausdruck zuweilen von einer wunderbaren
Schönheit; und wenn der Klassicismus uns nichts Andres geschenkt hätte, als
dies freundliche Bild, in welchem die Sonne Homers auch unsrem verwilder¬
ten Geschlechte leuchtet, so würden wir ihm für sein Streben in die Ferne
danken müssen. ,

. In einer weit freieren Form und mit viel größerem Erfolg verstand es
Goethe, die griechischen Formen in das deutsche Leben einzuführen. Seine
Kenntniß der Griechen war viel umfassender und eindringender, als die seines
Freundes, wenn auch nicht eigentlich gelehrt. Die Gestalten des Alterthums
waren ihm lebendige Gegenwart, er konnte sie im Großen und Ganzen
auffassen und hatte nicht nöthig, durch einzelne "mühsam zusammengesuchte
Farben und Striche den Schein des griechischen Lebens hervorzubringen-
Schiller empfand nur die Sehnsucht nach der griechischen Harmonie, da er
sich seiner eignen reflectirten und unharmonischen Bildung mit einem ge¬
wissen Schmerz bewußt war; Goethe dagegen fühlte, soweit es einer nor¬
dischen Natur erlaubt ist, wirklich als Grieche; er konnte daher das gegen¬
wärtige Leben mit griechischen Augen ansehen und diejenigen Züge herausfin¬
den, die der allgemein menschlichen Natur angehörig, von den Voraussetzungen
der Zeit befreit, sich bequem in die Einfachheit eines griechischen Gemäldes
fügten. Bei Schiller spricht immer nur die reflectirte Wehmuth über den Ver¬
lust der goldnen Zeit, Goethe sucht, soweit es angeht, die goldne Zeit in
seinem individuellen Leben und Dichten wiederherzustellen. Er lernte dem
Alterthum jene sinnliche Gestaltungskraft ab, die seine Elegien zu ewigen, allen
Zeiten gleich verständlichen Kunstwerken macht, während wir uns bei Schiller
erst mühsam zu der ätherischen Reinheit des griechischen Denkens erheben
müssen.

Gewöhnlich leitet man Goethes griechische Dichtungen von seiner Reise
nach Italien her, nicht ganz mit Recht, da die Iphigenie schon fertig war,
und da sich in den frühern Gedichten schon zahlreiche Anklänge an Griechen¬
land vorfinden. Von einem der schönsten seiner Gedichte, der Wanderer,
welches das Verhältniß zwischen Kunst und Natur in so außerordentlich
sinnigen und gemüthvollen Farben ausführt, sollte man vermuthen, es sei die
Frucht unmittelbarer lebendiger Anschauung, so klar treten diese Tempeltrümmer
im Waldgebüsch, zwischen denen der Bauer seine Hütte aufgeschlagen hat, wie
die Schwalbe ihr Nest, vor die Seele. Aber das Gedicht war gleichzeitig mit
dem Werther entstanden. Nicht die Anschauung Italiens, sondern die An¬
schauung Lottens hatte es hervorgerufen, und der Segen, den der Künstler
über den Knabencherabricf, her über den Resten heiliger Vergangenheit geboren
war, ihr Geist möge ihn umschweben, damit er in Götterselbstgesühl jedes Tags
genieße, war eine Stimme der Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem gelobten


geht. Die Ideen sind glänzend, der Ausdruck zuweilen von einer wunderbaren
Schönheit; und wenn der Klassicismus uns nichts Andres geschenkt hätte, als
dies freundliche Bild, in welchem die Sonne Homers auch unsrem verwilder¬
ten Geschlechte leuchtet, so würden wir ihm für sein Streben in die Ferne
danken müssen. ,

. In einer weit freieren Form und mit viel größerem Erfolg verstand es
Goethe, die griechischen Formen in das deutsche Leben einzuführen. Seine
Kenntniß der Griechen war viel umfassender und eindringender, als die seines
Freundes, wenn auch nicht eigentlich gelehrt. Die Gestalten des Alterthums
waren ihm lebendige Gegenwart, er konnte sie im Großen und Ganzen
auffassen und hatte nicht nöthig, durch einzelne "mühsam zusammengesuchte
Farben und Striche den Schein des griechischen Lebens hervorzubringen-
Schiller empfand nur die Sehnsucht nach der griechischen Harmonie, da er
sich seiner eignen reflectirten und unharmonischen Bildung mit einem ge¬
wissen Schmerz bewußt war; Goethe dagegen fühlte, soweit es einer nor¬
dischen Natur erlaubt ist, wirklich als Grieche; er konnte daher das gegen¬
wärtige Leben mit griechischen Augen ansehen und diejenigen Züge herausfin¬
den, die der allgemein menschlichen Natur angehörig, von den Voraussetzungen
der Zeit befreit, sich bequem in die Einfachheit eines griechischen Gemäldes
fügten. Bei Schiller spricht immer nur die reflectirte Wehmuth über den Ver¬
lust der goldnen Zeit, Goethe sucht, soweit es angeht, die goldne Zeit in
seinem individuellen Leben und Dichten wiederherzustellen. Er lernte dem
Alterthum jene sinnliche Gestaltungskraft ab, die seine Elegien zu ewigen, allen
Zeiten gleich verständlichen Kunstwerken macht, während wir uns bei Schiller
erst mühsam zu der ätherischen Reinheit des griechischen Denkens erheben
müssen.

Gewöhnlich leitet man Goethes griechische Dichtungen von seiner Reise
nach Italien her, nicht ganz mit Recht, da die Iphigenie schon fertig war,
und da sich in den frühern Gedichten schon zahlreiche Anklänge an Griechen¬
land vorfinden. Von einem der schönsten seiner Gedichte, der Wanderer,
welches das Verhältniß zwischen Kunst und Natur in so außerordentlich
sinnigen und gemüthvollen Farben ausführt, sollte man vermuthen, es sei die
Frucht unmittelbarer lebendiger Anschauung, so klar treten diese Tempeltrümmer
im Waldgebüsch, zwischen denen der Bauer seine Hütte aufgeschlagen hat, wie
die Schwalbe ihr Nest, vor die Seele. Aber das Gedicht war gleichzeitig mit
dem Werther entstanden. Nicht die Anschauung Italiens, sondern die An¬
schauung Lottens hatte es hervorgerufen, und der Segen, den der Künstler
über den Knabencherabricf, her über den Resten heiliger Vergangenheit geboren
war, ihr Geist möge ihn umschweben, damit er in Götterselbstgesühl jedes Tags
genieße, war eine Stimme der Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem gelobten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/501>, abgerufen am 03.07.2024.