Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

daß die Kunst dem Schmerz und der Befangenheit der irdischen Leiden¬
schaften entfliehen müsse. Es ist nicht ohne Bedenken, daß man Philo-
sopheme poetisch zu verklären fundi. Wenn Kant für das Schöne ein interesse¬
loses Wohlgefallen verlangte, meinte er damit das schlechte, endliche Interesse
des Einzelnen. Wenn aber die Kunst den wahren Eindruck machen soll, so
muß sie unser Herz ^ebenso mächtig bewegen, als das Leben. Nicht unsre
eigne Noth soll sie uns zeigen, aber was der ganzen Menschheit zugetheilt
ist, sie soll uns. wie der Goethesche Prometheus, Menschen formen nach
unsrem Bilde: zu leiden, zu weine", zu genießen und sich zu freuen u. f. w.
In der seligen Schattenwelt der ewig gleichen Götter ist keine Bewegung
möglich, also auch keine Poesie. Die Kunst soll nicht dem Schmerz entfliehen,
sie soll ihn concentriren und ihn adeln; und wenn sie, wie Goethe in seinen
Geheimnissen empfiehlt, das Kreuz des Lebens hinter Rosen versteckt, so soll
dieses Kreuz doch mit seinen Formen deutlich genug hervortreten, um uns in
unserm tiefsten Innern zu erschüttern. Das verkannte unsre Dichtung, als sie
uns den Mächten des wirklichen Lebens entrücken und uns auf den griechischen
Olymp entführen wollte. Nur hat glücklicherweise der innere Drang und die
Nothwendigkeit die Kunst aus diesem Reich der Schatten wieder heraus¬
getrieben und sie dem Leben wieder zugeführt, um seine lebendigen Schmerzen
und Hoffnungen zu theilen.

Die übrigen Gedichte dieser Zeit gruppiren sich als anmuthige Erläute¬
rungen um dies düstere romantische Reich der Schatten; so die Elegie: die
Ideale, in welcher die Wirklichkeit alles wahren Inhalts entkleidet und auf
hoffnungslose Beschäftigung eingeschränkt wird; die Sänger der Vorwelt,
wo von dem neuern Dichter gesagt wird, er vernehme kaum noch im Herzen
die himmlische Gottheit, die dem alten im Leben erschien.


Weh ihm, wenn er von Außen es jetzt noch glaubt zu vernehmen,
Und ein betrogenes Ohr leiht dem verführenden Ruf!
Aus der Welt um ihn her sprach zu dem Alten die Muse;
Kaum noch erscheint sie dem Neu'n, wenn er die seine -- vergißt.

Die Macht des Gesanges entwickelt in einer prächtigen Schilderung,
der beiläufig die Romantiker mit ihrer Bemühung, die Poesie zu schildern, nie
etwas Ebenbürtiges an die Seite gestellt haben, die Flut der Poesie, von
welcher die Menschheit nicht weiß, woher sie rauscht. Das Mädchen aus
der Fremde stellt in einer lieblichen Allegorie die Poesie wiederum als eine
Gottheit aus dem Jenseits dar, deren Spur im Leben schnell verloren geht.
In Natur und Schule (später der Genius) wird der schönen Seele,
d. h. dem echten Dichter, das Recht zuertheilt, in der Weise der Griechen der
Stimme der Natur zu folgen, die dem Leben schweigt, weil in der entavelten
Brust das Orakel verstummt ist. Noch glänzender ist dieser Freibrief deS


62*

daß die Kunst dem Schmerz und der Befangenheit der irdischen Leiden¬
schaften entfliehen müsse. Es ist nicht ohne Bedenken, daß man Philo-
sopheme poetisch zu verklären fundi. Wenn Kant für das Schöne ein interesse¬
loses Wohlgefallen verlangte, meinte er damit das schlechte, endliche Interesse
des Einzelnen. Wenn aber die Kunst den wahren Eindruck machen soll, so
muß sie unser Herz ^ebenso mächtig bewegen, als das Leben. Nicht unsre
eigne Noth soll sie uns zeigen, aber was der ganzen Menschheit zugetheilt
ist, sie soll uns. wie der Goethesche Prometheus, Menschen formen nach
unsrem Bilde: zu leiden, zu weine», zu genießen und sich zu freuen u. f. w.
In der seligen Schattenwelt der ewig gleichen Götter ist keine Bewegung
möglich, also auch keine Poesie. Die Kunst soll nicht dem Schmerz entfliehen,
sie soll ihn concentriren und ihn adeln; und wenn sie, wie Goethe in seinen
Geheimnissen empfiehlt, das Kreuz des Lebens hinter Rosen versteckt, so soll
dieses Kreuz doch mit seinen Formen deutlich genug hervortreten, um uns in
unserm tiefsten Innern zu erschüttern. Das verkannte unsre Dichtung, als sie
uns den Mächten des wirklichen Lebens entrücken und uns auf den griechischen
Olymp entführen wollte. Nur hat glücklicherweise der innere Drang und die
Nothwendigkeit die Kunst aus diesem Reich der Schatten wieder heraus¬
getrieben und sie dem Leben wieder zugeführt, um seine lebendigen Schmerzen
und Hoffnungen zu theilen.

Die übrigen Gedichte dieser Zeit gruppiren sich als anmuthige Erläute¬
rungen um dies düstere romantische Reich der Schatten; so die Elegie: die
Ideale, in welcher die Wirklichkeit alles wahren Inhalts entkleidet und auf
hoffnungslose Beschäftigung eingeschränkt wird; die Sänger der Vorwelt,
wo von dem neuern Dichter gesagt wird, er vernehme kaum noch im Herzen
die himmlische Gottheit, die dem alten im Leben erschien.


Weh ihm, wenn er von Außen es jetzt noch glaubt zu vernehmen,
Und ein betrogenes Ohr leiht dem verführenden Ruf!
Aus der Welt um ihn her sprach zu dem Alten die Muse;
Kaum noch erscheint sie dem Neu'n, wenn er die seine — vergißt.

Die Macht des Gesanges entwickelt in einer prächtigen Schilderung,
der beiläufig die Romantiker mit ihrer Bemühung, die Poesie zu schildern, nie
etwas Ebenbürtiges an die Seite gestellt haben, die Flut der Poesie, von
welcher die Menschheit nicht weiß, woher sie rauscht. Das Mädchen aus
der Fremde stellt in einer lieblichen Allegorie die Poesie wiederum als eine
Gottheit aus dem Jenseits dar, deren Spur im Leben schnell verloren geht.
In Natur und Schule (später der Genius) wird der schönen Seele,
d. h. dem echten Dichter, das Recht zuertheilt, in der Weise der Griechen der
Stimme der Natur zu folgen, die dem Leben schweigt, weil in der entavelten
Brust das Orakel verstummt ist. Noch glänzender ist dieser Freibrief deS


62*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99885"/>
          <p xml:id="ID_1697" prev="#ID_1696"> daß  die Kunst dem Schmerz und der Befangenheit der irdischen Leiden¬<lb/>
schaften entfliehen müsse.  Es ist nicht ohne Bedenken, daß man Philo-<lb/>
sopheme poetisch zu verklären fundi.  Wenn Kant für das Schöne ein interesse¬<lb/>
loses Wohlgefallen verlangte, meinte er damit das schlechte, endliche Interesse<lb/>
des Einzelnen.  Wenn aber die Kunst den wahren Eindruck machen soll, so<lb/>
muß sie unser Herz ^ebenso mächtig bewegen, als das Leben.  Nicht unsre<lb/>
eigne Noth soll sie uns zeigen, aber was der ganzen Menschheit zugetheilt<lb/>
ist, sie soll uns. wie der Goethesche Prometheus, Menschen formen nach<lb/>
unsrem Bilde: zu leiden, zu weine», zu genießen und sich zu freuen u. f. w.<lb/>
In der seligen Schattenwelt der ewig gleichen Götter ist keine Bewegung<lb/>
möglich, also auch keine Poesie.  Die Kunst soll nicht dem Schmerz entfliehen,<lb/>
sie soll ihn concentriren und ihn adeln; und wenn sie, wie Goethe in seinen<lb/>
Geheimnissen empfiehlt, das Kreuz des Lebens hinter Rosen versteckt, so soll<lb/>
dieses Kreuz doch mit seinen Formen deutlich genug hervortreten, um uns in<lb/>
unserm tiefsten Innern zu erschüttern.  Das verkannte unsre Dichtung, als sie<lb/>
uns den Mächten des wirklichen Lebens entrücken und uns auf den griechischen<lb/>
Olymp entführen wollte.  Nur hat glücklicherweise der innere Drang und die<lb/>
Nothwendigkeit die Kunst aus diesem Reich der Schatten wieder heraus¬<lb/>
getrieben und sie dem Leben wieder zugeführt, um seine lebendigen Schmerzen<lb/>
und Hoffnungen zu theilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1698"> Die übrigen Gedichte dieser Zeit gruppiren sich als anmuthige Erläute¬<lb/>
rungen um dies düstere romantische Reich der Schatten; so die Elegie: die<lb/>
Ideale, in welcher die Wirklichkeit alles wahren Inhalts entkleidet und auf<lb/>
hoffnungslose Beschäftigung eingeschränkt wird; die Sänger der Vorwelt,<lb/>
wo von dem neuern Dichter gesagt wird, er vernehme kaum noch im Herzen<lb/>
die himmlische Gottheit, die dem alten im Leben erschien.</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_23" type="poem">
              <l> Weh ihm, wenn er von Außen es jetzt noch glaubt zu vernehmen,<lb/>
Und ein betrogenes Ohr leiht dem verführenden Ruf!<lb/>
Aus der Welt um ihn her sprach zu dem Alten die Muse;<lb/>
Kaum noch erscheint sie dem Neu'n, wenn er die seine &#x2014; vergißt.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1699" next="#ID_1700"> Die Macht des Gesanges entwickelt in einer prächtigen Schilderung,<lb/>
der beiläufig die Romantiker mit ihrer Bemühung, die Poesie zu schildern, nie<lb/>
etwas Ebenbürtiges an die Seite gestellt haben, die Flut der Poesie, von<lb/>
welcher die Menschheit nicht weiß, woher sie rauscht. Das Mädchen aus<lb/>
der Fremde stellt in einer lieblichen Allegorie die Poesie wiederum als eine<lb/>
Gottheit aus dem Jenseits dar, deren Spur im Leben schnell verloren geht.<lb/>
In Natur und Schule (später der Genius) wird der schönen Seele,<lb/>
d. h. dem echten Dichter, das Recht zuertheilt, in der Weise der Griechen der<lb/>
Stimme der Natur zu folgen, die dem Leben schweigt, weil in der entavelten<lb/>
Brust das Orakel verstummt ist.  Noch glänzender ist dieser Freibrief deS</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 62*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] daß die Kunst dem Schmerz und der Befangenheit der irdischen Leiden¬ schaften entfliehen müsse. Es ist nicht ohne Bedenken, daß man Philo- sopheme poetisch zu verklären fundi. Wenn Kant für das Schöne ein interesse¬ loses Wohlgefallen verlangte, meinte er damit das schlechte, endliche Interesse des Einzelnen. Wenn aber die Kunst den wahren Eindruck machen soll, so muß sie unser Herz ^ebenso mächtig bewegen, als das Leben. Nicht unsre eigne Noth soll sie uns zeigen, aber was der ganzen Menschheit zugetheilt ist, sie soll uns. wie der Goethesche Prometheus, Menschen formen nach unsrem Bilde: zu leiden, zu weine», zu genießen und sich zu freuen u. f. w. In der seligen Schattenwelt der ewig gleichen Götter ist keine Bewegung möglich, also auch keine Poesie. Die Kunst soll nicht dem Schmerz entfliehen, sie soll ihn concentriren und ihn adeln; und wenn sie, wie Goethe in seinen Geheimnissen empfiehlt, das Kreuz des Lebens hinter Rosen versteckt, so soll dieses Kreuz doch mit seinen Formen deutlich genug hervortreten, um uns in unserm tiefsten Innern zu erschüttern. Das verkannte unsre Dichtung, als sie uns den Mächten des wirklichen Lebens entrücken und uns auf den griechischen Olymp entführen wollte. Nur hat glücklicherweise der innere Drang und die Nothwendigkeit die Kunst aus diesem Reich der Schatten wieder heraus¬ getrieben und sie dem Leben wieder zugeführt, um seine lebendigen Schmerzen und Hoffnungen zu theilen. Die übrigen Gedichte dieser Zeit gruppiren sich als anmuthige Erläute¬ rungen um dies düstere romantische Reich der Schatten; so die Elegie: die Ideale, in welcher die Wirklichkeit alles wahren Inhalts entkleidet und auf hoffnungslose Beschäftigung eingeschränkt wird; die Sänger der Vorwelt, wo von dem neuern Dichter gesagt wird, er vernehme kaum noch im Herzen die himmlische Gottheit, die dem alten im Leben erschien. Weh ihm, wenn er von Außen es jetzt noch glaubt zu vernehmen, Und ein betrogenes Ohr leiht dem verführenden Ruf! Aus der Welt um ihn her sprach zu dem Alten die Muse; Kaum noch erscheint sie dem Neu'n, wenn er die seine — vergißt. Die Macht des Gesanges entwickelt in einer prächtigen Schilderung, der beiläufig die Romantiker mit ihrer Bemühung, die Poesie zu schildern, nie etwas Ebenbürtiges an die Seite gestellt haben, die Flut der Poesie, von welcher die Menschheit nicht weiß, woher sie rauscht. Das Mädchen aus der Fremde stellt in einer lieblichen Allegorie die Poesie wiederum als eine Gottheit aus dem Jenseits dar, deren Spur im Leben schnell verloren geht. In Natur und Schule (später der Genius) wird der schönen Seele, d. h. dem echten Dichter, das Recht zuertheilt, in der Weise der Griechen der Stimme der Natur zu folgen, die dem Leben schweigt, weil in der entavelten Brust das Orakel verstummt ist. Noch glänzender ist dieser Freibrief deS 62*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/499>, abgerufen am 22.07.2024.