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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Opfert freudig aus. was ihr besessen,
Was ihr einst gewesen, was ihr seid,
Und in einem seligen Vergessen
schwinde die Vergangenheit.

Das sind harte Anforderungen an den Menschen und er weiß nicht recht,
wie er sie erfüllen soll, wenn ihm auch herrliche Güter dafür in Aussicht gestellt
werden, z. B. daß in diesem Heiligthume jede Pflicht, jede Schuld und jeder
Schmerz aufhört. Das wirkliche Lehen ist stets ungenügend. Wenn die
Menschheit in ihrer traurigen Blöße vor dem Gesetz steht, dann muß die
Tugend vor der Wahrheit erblassen, vor dem Ideal muß die That beschämt
zurückweichen.


Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen;
Ueber diesen grauenvollen Schlund
Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
Und kein Anker findet Grund.
Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist cntflohn,
Und der ewge Abgrund wird sich füllen,
Nehmt die Gottheit auf in euren Wille",
Und sie steigt von ihrem Weltcnthron.

Die Menschheit soll denselben Verjüngungsproceß durchmachen, wie Her¬
cules, der im Leben die größten Plagen erduldete, -- -


Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet
Und des Aethers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen ungewohnten Schwedens,
Fliegt er auswärts, und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.

In der Glut seiner neuen priesterlichen Weihe hatte Schiller vor, die
Vermählung des verjüngten Hercules mit der Hebe in einem Idyll zu feiern,
welches das Marimum der Poesie werden sollte. Wir bedauern eS nur mäßig,
daß dieses Gedicht nicht geschrieben ist, da der kampfesfreudige, an Löwen
und Drachen gewöhnte Gott in der ewigen Heiterkeit dieser seligen Schatten¬
welt im Ganzen eine sehr unerquickliche Rolle gespielt haben würde. Jene
Verklärung paßt wol für einen sehnsuchtsvollen Jüngling, wie ihn Goethe in
seinem Ganymev so lieblich schildert, aber nicht für den Gewaltigen, der schon
als Säugling die Schlangen zerdrückte und der den dreiköpfigen Höllenhund,
als er ihm den Ausgang wehrte, lachend über die Schulter warf.

Lassen wir jetzt das Mythische bei Seite und suchen für die Symbolik
den realen Ausdruck, so hat Schiller wol nichts Andres gemeint, als


Opfert freudig aus. was ihr besessen,
Was ihr einst gewesen, was ihr seid,
Und in einem seligen Vergessen
schwinde die Vergangenheit.

Das sind harte Anforderungen an den Menschen und er weiß nicht recht,
wie er sie erfüllen soll, wenn ihm auch herrliche Güter dafür in Aussicht gestellt
werden, z. B. daß in diesem Heiligthume jede Pflicht, jede Schuld und jeder
Schmerz aufhört. Das wirkliche Lehen ist stets ungenügend. Wenn die
Menschheit in ihrer traurigen Blöße vor dem Gesetz steht, dann muß die
Tugend vor der Wahrheit erblassen, vor dem Ideal muß die That beschämt
zurückweichen.


Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen;
Ueber diesen grauenvollen Schlund
Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
Und kein Anker findet Grund.
Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist cntflohn,
Und der ewge Abgrund wird sich füllen,
Nehmt die Gottheit auf in euren Wille»,
Und sie steigt von ihrem Weltcnthron.

Die Menschheit soll denselben Verjüngungsproceß durchmachen, wie Her¬
cules, der im Leben die größten Plagen erduldete, — -


Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet
Und des Aethers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen ungewohnten Schwedens,
Fliegt er auswärts, und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.

In der Glut seiner neuen priesterlichen Weihe hatte Schiller vor, die
Vermählung des verjüngten Hercules mit der Hebe in einem Idyll zu feiern,
welches das Marimum der Poesie werden sollte. Wir bedauern eS nur mäßig,
daß dieses Gedicht nicht geschrieben ist, da der kampfesfreudige, an Löwen
und Drachen gewöhnte Gott in der ewigen Heiterkeit dieser seligen Schatten¬
welt im Ganzen eine sehr unerquickliche Rolle gespielt haben würde. Jene
Verklärung paßt wol für einen sehnsuchtsvollen Jüngling, wie ihn Goethe in
seinem Ganymev so lieblich schildert, aber nicht für den Gewaltigen, der schon
als Säugling die Schlangen zerdrückte und der den dreiköpfigen Höllenhund,
als er ihm den Ausgang wehrte, lachend über die Schulter warf.

Lassen wir jetzt das Mythische bei Seite und suchen für die Symbolik
den realen Ausdruck, so hat Schiller wol nichts Andres gemeint, als


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[0498] Opfert freudig aus. was ihr besessen, Was ihr einst gewesen, was ihr seid, Und in einem seligen Vergessen schwinde die Vergangenheit. Das sind harte Anforderungen an den Menschen und er weiß nicht recht, wie er sie erfüllen soll, wenn ihm auch herrliche Güter dafür in Aussicht gestellt werden, z. B. daß in diesem Heiligthume jede Pflicht, jede Schuld und jeder Schmerz aufhört. Das wirkliche Lehen ist stets ungenügend. Wenn die Menschheit in ihrer traurigen Blöße vor dem Gesetz steht, dann muß die Tugend vor der Wahrheit erblassen, vor dem Ideal muß die That beschämt zurückweichen. Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen; Ueber diesen grauenvollen Schlund Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen, Und kein Anker findet Grund. Aber flüchtet aus der Sinne Schranken In die Freiheit der Gedanken, Und die Furchterscheinung ist cntflohn, Und der ewge Abgrund wird sich füllen, Nehmt die Gottheit auf in euren Wille», Und sie steigt von ihrem Weltcnthron. Die Menschheit soll denselben Verjüngungsproceß durchmachen, wie Her¬ cules, der im Leben die größten Plagen erduldete, — - Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet Und des Aethers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwedens, Fliegt er auswärts, und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. In der Glut seiner neuen priesterlichen Weihe hatte Schiller vor, die Vermählung des verjüngten Hercules mit der Hebe in einem Idyll zu feiern, welches das Marimum der Poesie werden sollte. Wir bedauern eS nur mäßig, daß dieses Gedicht nicht geschrieben ist, da der kampfesfreudige, an Löwen und Drachen gewöhnte Gott in der ewigen Heiterkeit dieser seligen Schatten¬ welt im Ganzen eine sehr unerquickliche Rolle gespielt haben würde. Jene Verklärung paßt wol für einen sehnsuchtsvollen Jüngling, wie ihn Goethe in seinem Ganymev so lieblich schildert, aber nicht für den Gewaltigen, der schon als Säugling die Schlangen zerdrückte und der den dreiköpfigen Höllenhund, als er ihm den Ausgang wehrte, lachend über die Schulter warf. Lassen wir jetzt das Mythische bei Seite und suchen für die Symbolik den realen Ausdruck, so hat Schiller wol nichts Andres gemeint, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/498>, abgerufen am 24.08.2024.