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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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schöpfter Gehalt überall durch eine einseitige Färbung gestört wird. Wenn sie
daher nicht mehr im Volk fortleben, mit Ausnahme einiger leichtern Producte
von rein dogmatischer Form, so ist das in der Ordnung, da das Volk nur an
Dichtungen von unbedingter Wahrheit seine Nahrung findet. Im Grunde
waren sie auch nie in das Volk eingedrungen, sie waren nur für die feinste
Bildung berechnet, aber für diese werden sie ein ewiger Erwerb bleiben, und
wenn einmal der Denkproceß jener Periode aus der Erinnerung der Literatur
schwinden sollte, so wird man ihn in seinen hauptsächlichsten Umrissen aus
Schillers Gedichten wieder herstellen können. Zwar traten in ihnen d(e Ideen
jenes Processes nur symbolisch auf, gleich den Schatten in der Odyssee, die erst
Blut trinken mußten, bevor sie den Lebendigen Rede und Antwort gaben,
aber um so reiner wird ihre Gestalt, wenn wir sie wirklich mit dem Athem des
Lebens berühren.

Von den Gedichten, die Schiller vor seinem Bunde mit Goethe schrieb,
gehören nur zwei in diesen Kreis: Die Götter Griechenlands (1788) und die
Künstler (-1789). Sie sind auch die einzigen von wirklich poetischem Werth,
denn das berühmte Lied an die Freude ist ebenso krankhaft im Inhalt, als
verwildert in der Form.

Die Götter Griechenlands haben unter allen didaktischen Gedichten
die größte künstlerische Abrundung, besonders in der spätern Bearbeitung, sie
gehören trotz einzelner Härten zu den reizendsten Gebilden unsrer Phantasie.
Freilich wird man durch die Masse der mythologischen Namen noch an Ramler er¬
innert. Nicht überall ist dem Dichter gelungen, was er'an einzelnen Stellen
meisterhaft verstanden hat, statt des Gedächtnisses die Phantasie anzuregen und
die mythischen Bilder wirklich auszumalen, die er zuweilen nur mit Hilfe der
Gelehrsamkeit andeutet. Allein der Gegensatz gegen Ramler ist doch unver¬
kennbar. Dieser hat die Dichtkunst aus Horaz gelernt und wendet die Formen
und Figuren an, die er in seinem Vorbild findet, ohne daran zu denken, daß
sie für unser Klima und unsre Vorstellungen nicht mehr passen. Schiller faßt
diese verschwundene poetische Welt als den Gegensatz gegen unsre gewohnten
Vorstellungen auf, die er ausführlich schildern muß, um sie uns wieder gegen¬
wärtig zu machen.

Der Schmerz des Dichters über den Verlust der alten Götter wird durch
zwei Umstände motivirt: einmal vermißt er in der modernen Naturanschauung
die individuelle Belebung und Bewegung des natürlichen Lebens. Die Wissen¬
schaft hat bei uns Alles in Gesetze und Beziehungsbegriffe ausgelöst und den
heitern Gestalten der Dichtung allen Raum genommen; die entgötterte Natur
dient knechtisch dem Gesetz der Schwere, während bei den Griechen das kleinste
Leben die Spuren eines Gottes zeigte oder mit andern Worten als eine in¬
dividuelle Existenz aufgefaßt wurde. -- Sodann ist die Einheit des natürlichen


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schöpfter Gehalt überall durch eine einseitige Färbung gestört wird. Wenn sie
daher nicht mehr im Volk fortleben, mit Ausnahme einiger leichtern Producte
von rein dogmatischer Form, so ist das in der Ordnung, da das Volk nur an
Dichtungen von unbedingter Wahrheit seine Nahrung findet. Im Grunde
waren sie auch nie in das Volk eingedrungen, sie waren nur für die feinste
Bildung berechnet, aber für diese werden sie ein ewiger Erwerb bleiben, und
wenn einmal der Denkproceß jener Periode aus der Erinnerung der Literatur
schwinden sollte, so wird man ihn in seinen hauptsächlichsten Umrissen aus
Schillers Gedichten wieder herstellen können. Zwar traten in ihnen d(e Ideen
jenes Processes nur symbolisch auf, gleich den Schatten in der Odyssee, die erst
Blut trinken mußten, bevor sie den Lebendigen Rede und Antwort gaben,
aber um so reiner wird ihre Gestalt, wenn wir sie wirklich mit dem Athem des
Lebens berühren.

Von den Gedichten, die Schiller vor seinem Bunde mit Goethe schrieb,
gehören nur zwei in diesen Kreis: Die Götter Griechenlands (1788) und die
Künstler (-1789). Sie sind auch die einzigen von wirklich poetischem Werth,
denn das berühmte Lied an die Freude ist ebenso krankhaft im Inhalt, als
verwildert in der Form.

Die Götter Griechenlands haben unter allen didaktischen Gedichten
die größte künstlerische Abrundung, besonders in der spätern Bearbeitung, sie
gehören trotz einzelner Härten zu den reizendsten Gebilden unsrer Phantasie.
Freilich wird man durch die Masse der mythologischen Namen noch an Ramler er¬
innert. Nicht überall ist dem Dichter gelungen, was er'an einzelnen Stellen
meisterhaft verstanden hat, statt des Gedächtnisses die Phantasie anzuregen und
die mythischen Bilder wirklich auszumalen, die er zuweilen nur mit Hilfe der
Gelehrsamkeit andeutet. Allein der Gegensatz gegen Ramler ist doch unver¬
kennbar. Dieser hat die Dichtkunst aus Horaz gelernt und wendet die Formen
und Figuren an, die er in seinem Vorbild findet, ohne daran zu denken, daß
sie für unser Klima und unsre Vorstellungen nicht mehr passen. Schiller faßt
diese verschwundene poetische Welt als den Gegensatz gegen unsre gewohnten
Vorstellungen auf, die er ausführlich schildern muß, um sie uns wieder gegen¬
wärtig zu machen.

Der Schmerz des Dichters über den Verlust der alten Götter wird durch
zwei Umstände motivirt: einmal vermißt er in der modernen Naturanschauung
die individuelle Belebung und Bewegung des natürlichen Lebens. Die Wissen¬
schaft hat bei uns Alles in Gesetze und Beziehungsbegriffe ausgelöst und den
heitern Gestalten der Dichtung allen Raum genommen; die entgötterte Natur
dient knechtisch dem Gesetz der Schwere, während bei den Griechen das kleinste
Leben die Spuren eines Gottes zeigte oder mit andern Worten als eine in¬
dividuelle Existenz aufgefaßt wurde. — Sodann ist die Einheit des natürlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/491>, abgerufen am 03.07.2024.