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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Vergleicht man Schiller mit den gebornen lyrischen Dichtern, z. B. mit
Goethe und Bürger, so überzeugt man sich bald, daß die eigentliche Richtung
seines Talents nicht nach dieser Seite hin lag. Seine Jugendgedichte sind
fast ohne Unterschied roh und unmusikalisch und auch seinen reifsten Werken,
an denen er lange und eifrig gearbeitet, fehlt das Siegel der letzen Vollendung.
So schöne Einzelheiten sie enthalten, man vermißt immer etwas, sei es nun
an der Einheit der Stimmung oder an dem Rhythmus der Gedanken, oder auch
an dem Wohllaut der Form; sie verrathen die Arbeit und zwar eine Arbeit,
die nicht fertig geworden ist. Ein flüchtiges Gefühl durch Ton und Bild fest¬
zuhalten, war ihm nicht gegeben, er mußte ins Breite gehen und entweder
durch Glanz der Schilderungen oder durch Fülle der Gedanken sich den Stoff
erobern, den ihm die einfache individuelle Empfindung nicht gab. Es ist ein
bestimmter Gedanke, um den seine Gedichte kreisen: der Gedanke der Kunst,
die zuerst in Griechenland verkündet wurde und die berufen sei, die Menschheit
aus einem langen, trüben Traum wieder zu erlösen.

Die Frage über die Berechtigung dieser Gattung entscheidet sich leicht
durch den factischen Beweis und dieser ist durch Schillers Gedichte auf das
glänzendste geführt. Wenn auch keines derselben einen reinen Eindruck macht,
so geben sie uns doch so viel Schönes, daß wir sie unzweifelhaft als eine Be¬
reicherung des poetischen Gebiets begrüßen müssen. ,

Es gibt in der Philosophie, die den Beruf hat, die Höhen des Lebens
zu erleuchten, Gedanken und Perspectiven, die einer Vermittlung durch die
" gewöhnliche Form des Beweises nicht bedürfen, die sich der intellectuellen An¬
schauung als unmittelbare Wahrheiten in der Form eines Bildes versinnlichen
lassen. Solche Ideen in schöner Form der Einbildungskrast und dem Ge¬
dächtniß einzuprägen, ist der Berus des Dichters. Allein indem er aus der
individuellen Empfindung, die den Beweis der Wahrheit in sich selbst fragen
muß, heraustritt, unterwirft er sich einer doppelten Kritik. Wir wollen zuerst >
auf dieselbe Weise angeregt sein, wie es durch die Poesie überhaupt ge-,
schieht, wir wollen von einem reichen, sanft bewegten Strom der Empfindung
getragen werden und die Bilder in anmuthiger Gruppirung an uns vorüber¬
gleiten sehen; dann aber wollen wir, was zunächst unsre Einbildungskraft
beschäftigt, auch mit dem Verstände prüfen. Wo der Dichter mit allgemeinen
Ideen umgeht, dürfen wir ihm nicht überlassen, daß er ein Spiel mit uns
treibt; seine Worte müssen einen religiösen Ernst athmen und die schone Form
muß einen echten, dauerhaften Gehalt umschließen. Dennoch hat zuweilen auch
der Irrthum seine Berechtigung, wenn er in die Tiefe geht und fruchtbare
neue Gedanken in uns erregt. Es wäre übertrieben, wenn wir Schillers
Gedichte als einen einzigen großen Irrthum bezeichneten, wol aber dürfen wir
behaupten, daß ihr höchst bedeutender und aus der Tiefe des Gedankens ge-


Vergleicht man Schiller mit den gebornen lyrischen Dichtern, z. B. mit
Goethe und Bürger, so überzeugt man sich bald, daß die eigentliche Richtung
seines Talents nicht nach dieser Seite hin lag. Seine Jugendgedichte sind
fast ohne Unterschied roh und unmusikalisch und auch seinen reifsten Werken,
an denen er lange und eifrig gearbeitet, fehlt das Siegel der letzen Vollendung.
So schöne Einzelheiten sie enthalten, man vermißt immer etwas, sei es nun
an der Einheit der Stimmung oder an dem Rhythmus der Gedanken, oder auch
an dem Wohllaut der Form; sie verrathen die Arbeit und zwar eine Arbeit,
die nicht fertig geworden ist. Ein flüchtiges Gefühl durch Ton und Bild fest¬
zuhalten, war ihm nicht gegeben, er mußte ins Breite gehen und entweder
durch Glanz der Schilderungen oder durch Fülle der Gedanken sich den Stoff
erobern, den ihm die einfache individuelle Empfindung nicht gab. Es ist ein
bestimmter Gedanke, um den seine Gedichte kreisen: der Gedanke der Kunst,
die zuerst in Griechenland verkündet wurde und die berufen sei, die Menschheit
aus einem langen, trüben Traum wieder zu erlösen.

Die Frage über die Berechtigung dieser Gattung entscheidet sich leicht
durch den factischen Beweis und dieser ist durch Schillers Gedichte auf das
glänzendste geführt. Wenn auch keines derselben einen reinen Eindruck macht,
so geben sie uns doch so viel Schönes, daß wir sie unzweifelhaft als eine Be¬
reicherung des poetischen Gebiets begrüßen müssen. ,

Es gibt in der Philosophie, die den Beruf hat, die Höhen des Lebens
zu erleuchten, Gedanken und Perspectiven, die einer Vermittlung durch die
» gewöhnliche Form des Beweises nicht bedürfen, die sich der intellectuellen An¬
schauung als unmittelbare Wahrheiten in der Form eines Bildes versinnlichen
lassen. Solche Ideen in schöner Form der Einbildungskrast und dem Ge¬
dächtniß einzuprägen, ist der Berus des Dichters. Allein indem er aus der
individuellen Empfindung, die den Beweis der Wahrheit in sich selbst fragen
muß, heraustritt, unterwirft er sich einer doppelten Kritik. Wir wollen zuerst >
auf dieselbe Weise angeregt sein, wie es durch die Poesie überhaupt ge-,
schieht, wir wollen von einem reichen, sanft bewegten Strom der Empfindung
getragen werden und die Bilder in anmuthiger Gruppirung an uns vorüber¬
gleiten sehen; dann aber wollen wir, was zunächst unsre Einbildungskraft
beschäftigt, auch mit dem Verstände prüfen. Wo der Dichter mit allgemeinen
Ideen umgeht, dürfen wir ihm nicht überlassen, daß er ein Spiel mit uns
treibt; seine Worte müssen einen religiösen Ernst athmen und die schone Form
muß einen echten, dauerhaften Gehalt umschließen. Dennoch hat zuweilen auch
der Irrthum seine Berechtigung, wenn er in die Tiefe geht und fruchtbare
neue Gedanken in uns erregt. Es wäre übertrieben, wenn wir Schillers
Gedichte als einen einzigen großen Irrthum bezeichneten, wol aber dürfen wir
behaupten, daß ihr höchst bedeutender und aus der Tiefe des Gedankens ge-


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[0490] Vergleicht man Schiller mit den gebornen lyrischen Dichtern, z. B. mit Goethe und Bürger, so überzeugt man sich bald, daß die eigentliche Richtung seines Talents nicht nach dieser Seite hin lag. Seine Jugendgedichte sind fast ohne Unterschied roh und unmusikalisch und auch seinen reifsten Werken, an denen er lange und eifrig gearbeitet, fehlt das Siegel der letzen Vollendung. So schöne Einzelheiten sie enthalten, man vermißt immer etwas, sei es nun an der Einheit der Stimmung oder an dem Rhythmus der Gedanken, oder auch an dem Wohllaut der Form; sie verrathen die Arbeit und zwar eine Arbeit, die nicht fertig geworden ist. Ein flüchtiges Gefühl durch Ton und Bild fest¬ zuhalten, war ihm nicht gegeben, er mußte ins Breite gehen und entweder durch Glanz der Schilderungen oder durch Fülle der Gedanken sich den Stoff erobern, den ihm die einfache individuelle Empfindung nicht gab. Es ist ein bestimmter Gedanke, um den seine Gedichte kreisen: der Gedanke der Kunst, die zuerst in Griechenland verkündet wurde und die berufen sei, die Menschheit aus einem langen, trüben Traum wieder zu erlösen. Die Frage über die Berechtigung dieser Gattung entscheidet sich leicht durch den factischen Beweis und dieser ist durch Schillers Gedichte auf das glänzendste geführt. Wenn auch keines derselben einen reinen Eindruck macht, so geben sie uns doch so viel Schönes, daß wir sie unzweifelhaft als eine Be¬ reicherung des poetischen Gebiets begrüßen müssen. , Es gibt in der Philosophie, die den Beruf hat, die Höhen des Lebens zu erleuchten, Gedanken und Perspectiven, die einer Vermittlung durch die » gewöhnliche Form des Beweises nicht bedürfen, die sich der intellectuellen An¬ schauung als unmittelbare Wahrheiten in der Form eines Bildes versinnlichen lassen. Solche Ideen in schöner Form der Einbildungskrast und dem Ge¬ dächtniß einzuprägen, ist der Berus des Dichters. Allein indem er aus der individuellen Empfindung, die den Beweis der Wahrheit in sich selbst fragen muß, heraustritt, unterwirft er sich einer doppelten Kritik. Wir wollen zuerst > auf dieselbe Weise angeregt sein, wie es durch die Poesie überhaupt ge-, schieht, wir wollen von einem reichen, sanft bewegten Strom der Empfindung getragen werden und die Bilder in anmuthiger Gruppirung an uns vorüber¬ gleiten sehen; dann aber wollen wir, was zunächst unsre Einbildungskraft beschäftigt, auch mit dem Verstände prüfen. Wo der Dichter mit allgemeinen Ideen umgeht, dürfen wir ihm nicht überlassen, daß er ein Spiel mit uns treibt; seine Worte müssen einen religiösen Ernst athmen und die schone Form muß einen echten, dauerhaften Gehalt umschließen. Dennoch hat zuweilen auch der Irrthum seine Berechtigung, wenn er in die Tiefe geht und fruchtbare neue Gedanken in uns erregt. Es wäre übertrieben, wenn wir Schillers Gedichte als einen einzigen großen Irrthum bezeichneten, wol aber dürfen wir behaupten, daß ihr höchst bedeutender und aus der Tiefe des Gedankens ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/490>, abgerufen am 01.07.2024.