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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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mentraf, wodurch in Berlin die Beschickung der Nationalversammlung zu
Frankfurt a. M. nicht durch die Wahlen des Landtags, sondern nach allgemei¬
nem Stimmrecht herbeigeführt wurde.

Allerdings normirte jener erwähnte Satz der Ndresse das Weitere. Selbst dem
Adel erschien es damals wünschenswert!?, die damalige Grundlage der ersten Kam¬
mer zu verlassen, da man dieselbe Basis, ohne in das Privatrecht einzugreifen,
nicht abändern konnte. Hinter der Umgestaltung der Kammer hofften die
Herren wenigstens den Besitz an ritterschaftlichen Vermögen, Stiftungen, Klö¬
stern, Stipendien zu retten. Man war allgemein einverstanden, die Vertretung
der größern Grundeigenthümer der bisherigen der Ritterschaften zu substituiren.
Mancher Einsichtsvollere erinnerte sich dabei, daß schon 1819 die Rede davon
gewesen war, die Bauern in die erste Kammer und somit dem Adel näher zu
rücken, um so gemeinschaftlich den Städtern in der zweiten Kammer erfolgreicher
.zu widerstehen. In der Vertretung des Grundeigenthums lag noch die einzige
Möglichkeit, das Zweikammersystem zu halten, dem die unaufhaltsamen Fort¬
schrittsmänner von allen Seiten bei'zukommen suchten. Dennoch blieb die Ver¬
tauschung der Begriffe von Rittergütern und großem Grundbesitz stets ein
Wagniß, weil es nicht ungefährlich ist, die Wahl von der historisch berechtig¬
ten Corporation auf einen rationell zu begründenden, unerprobten Census über¬
gehen zu lassen. Im Einzelnen stieß die Durchführung außerdem auf die
Schwierigkeit, die Stimmen in der einen Provinz nicht zu häufen und die
andre Provinz nicht davon zu entblößen.

Auch bedürfte die erste Kammer besserer Kräfte, als ein Grundsteuereensus
geben konnte. Durch die Einseitigkeit des cremten Grundbesitzes war die alte
erste Kammer so lange zusammengehalten worden, wie es noch Eremtiouen zu
vertheidigen gab. "Die Einseitigkeit der bloßen Landwirthe," sagt Stüve in
dem Sendschreiben an seine Wahlmänner in Münden (1832), "wurde von
vielen gefürchtet und hätte beim Mangel der Kraft, welche Standesinteresse
und gesellige Stellung dem Adel geben, die Kammer des Gewichts beraubt,
das sie zum Heil des Staats haben sollte. Umsomehr wurde der Gedanke ge¬
faßt, hier diejenigen Stände zu vereinigen, auf denen am meisten das Leben
der Gegenwart beruht, in denen eine Zusammengehörigkeit, eine corporative
Bedeutung noch erkannt wird oder nach Entwicklung ringt. Hier sollte die
Vertretung in der ersten Kammer zugleich Stützpunkt für eine kraftvollere Ent¬
wicklung des körperschaftlichen Lebens verbürgen und jener Kammer selbst eine
solche Allgemeinheit des Interesses geben, welche derselben genügende geistige
Kräfte zuführte.

Es sollte eine wahrhaft ständische Institution sein; ständisch im Sinne der
lebendigen Gegenwart. Daß diese Dinge nicht für den Augenblick, wo man sie
brauchte, vorbereitet waren, fällt derjenigen Schule zur Last, welche sich in Berlin


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mentraf, wodurch in Berlin die Beschickung der Nationalversammlung zu
Frankfurt a. M. nicht durch die Wahlen des Landtags, sondern nach allgemei¬
nem Stimmrecht herbeigeführt wurde.

Allerdings normirte jener erwähnte Satz der Ndresse das Weitere. Selbst dem
Adel erschien es damals wünschenswert!?, die damalige Grundlage der ersten Kam¬
mer zu verlassen, da man dieselbe Basis, ohne in das Privatrecht einzugreifen,
nicht abändern konnte. Hinter der Umgestaltung der Kammer hofften die
Herren wenigstens den Besitz an ritterschaftlichen Vermögen, Stiftungen, Klö¬
stern, Stipendien zu retten. Man war allgemein einverstanden, die Vertretung
der größern Grundeigenthümer der bisherigen der Ritterschaften zu substituiren.
Mancher Einsichtsvollere erinnerte sich dabei, daß schon 1819 die Rede davon
gewesen war, die Bauern in die erste Kammer und somit dem Adel näher zu
rücken, um so gemeinschaftlich den Städtern in der zweiten Kammer erfolgreicher
.zu widerstehen. In der Vertretung des Grundeigenthums lag noch die einzige
Möglichkeit, das Zweikammersystem zu halten, dem die unaufhaltsamen Fort¬
schrittsmänner von allen Seiten bei'zukommen suchten. Dennoch blieb die Ver¬
tauschung der Begriffe von Rittergütern und großem Grundbesitz stets ein
Wagniß, weil es nicht ungefährlich ist, die Wahl von der historisch berechtig¬
ten Corporation auf einen rationell zu begründenden, unerprobten Census über¬
gehen zu lassen. Im Einzelnen stieß die Durchführung außerdem auf die
Schwierigkeit, die Stimmen in der einen Provinz nicht zu häufen und die
andre Provinz nicht davon zu entblößen.

Auch bedürfte die erste Kammer besserer Kräfte, als ein Grundsteuereensus
geben konnte. Durch die Einseitigkeit des cremten Grundbesitzes war die alte
erste Kammer so lange zusammengehalten worden, wie es noch Eremtiouen zu
vertheidigen gab. „Die Einseitigkeit der bloßen Landwirthe," sagt Stüve in
dem Sendschreiben an seine Wahlmänner in Münden (1832), „wurde von
vielen gefürchtet und hätte beim Mangel der Kraft, welche Standesinteresse
und gesellige Stellung dem Adel geben, die Kammer des Gewichts beraubt,
das sie zum Heil des Staats haben sollte. Umsomehr wurde der Gedanke ge¬
faßt, hier diejenigen Stände zu vereinigen, auf denen am meisten das Leben
der Gegenwart beruht, in denen eine Zusammengehörigkeit, eine corporative
Bedeutung noch erkannt wird oder nach Entwicklung ringt. Hier sollte die
Vertretung in der ersten Kammer zugleich Stützpunkt für eine kraftvollere Ent¬
wicklung des körperschaftlichen Lebens verbürgen und jener Kammer selbst eine
solche Allgemeinheit des Interesses geben, welche derselben genügende geistige
Kräfte zuführte.

Es sollte eine wahrhaft ständische Institution sein; ständisch im Sinne der
lebendigen Gegenwart. Daß diese Dinge nicht für den Augenblick, wo man sie
brauchte, vorbereitet waren, fällt derjenigen Schule zur Last, welche sich in Berlin


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[0467] mentraf, wodurch in Berlin die Beschickung der Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. nicht durch die Wahlen des Landtags, sondern nach allgemei¬ nem Stimmrecht herbeigeführt wurde. Allerdings normirte jener erwähnte Satz der Ndresse das Weitere. Selbst dem Adel erschien es damals wünschenswert!?, die damalige Grundlage der ersten Kam¬ mer zu verlassen, da man dieselbe Basis, ohne in das Privatrecht einzugreifen, nicht abändern konnte. Hinter der Umgestaltung der Kammer hofften die Herren wenigstens den Besitz an ritterschaftlichen Vermögen, Stiftungen, Klö¬ stern, Stipendien zu retten. Man war allgemein einverstanden, die Vertretung der größern Grundeigenthümer der bisherigen der Ritterschaften zu substituiren. Mancher Einsichtsvollere erinnerte sich dabei, daß schon 1819 die Rede davon gewesen war, die Bauern in die erste Kammer und somit dem Adel näher zu rücken, um so gemeinschaftlich den Städtern in der zweiten Kammer erfolgreicher .zu widerstehen. In der Vertretung des Grundeigenthums lag noch die einzige Möglichkeit, das Zweikammersystem zu halten, dem die unaufhaltsamen Fort¬ schrittsmänner von allen Seiten bei'zukommen suchten. Dennoch blieb die Ver¬ tauschung der Begriffe von Rittergütern und großem Grundbesitz stets ein Wagniß, weil es nicht ungefährlich ist, die Wahl von der historisch berechtig¬ ten Corporation auf einen rationell zu begründenden, unerprobten Census über¬ gehen zu lassen. Im Einzelnen stieß die Durchführung außerdem auf die Schwierigkeit, die Stimmen in der einen Provinz nicht zu häufen und die andre Provinz nicht davon zu entblößen. Auch bedürfte die erste Kammer besserer Kräfte, als ein Grundsteuereensus geben konnte. Durch die Einseitigkeit des cremten Grundbesitzes war die alte erste Kammer so lange zusammengehalten worden, wie es noch Eremtiouen zu vertheidigen gab. „Die Einseitigkeit der bloßen Landwirthe," sagt Stüve in dem Sendschreiben an seine Wahlmänner in Münden (1832), „wurde von vielen gefürchtet und hätte beim Mangel der Kraft, welche Standesinteresse und gesellige Stellung dem Adel geben, die Kammer des Gewichts beraubt, das sie zum Heil des Staats haben sollte. Umsomehr wurde der Gedanke ge¬ faßt, hier diejenigen Stände zu vereinigen, auf denen am meisten das Leben der Gegenwart beruht, in denen eine Zusammengehörigkeit, eine corporative Bedeutung noch erkannt wird oder nach Entwicklung ringt. Hier sollte die Vertretung in der ersten Kammer zugleich Stützpunkt für eine kraftvollere Ent¬ wicklung des körperschaftlichen Lebens verbürgen und jener Kammer selbst eine solche Allgemeinheit des Interesses geben, welche derselben genügende geistige Kräfte zuführte. Es sollte eine wahrhaft ständische Institution sein; ständisch im Sinne der lebendigen Gegenwart. Daß diese Dinge nicht für den Augenblick, wo man sie brauchte, vorbereitet waren, fällt derjenigen Schule zur Last, welche sich in Berlin !)8*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/467>, abgerufen am 25.08.2024.