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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Vulpius; vor einem edlern und stärkern Gemüth hätte seine vornehme Art,
Gefühle und Beziehungen obenhin zu behandeln, nicht Stich gehalten.

Diese Unsicherheit in den Gefühlen, diese verschämte Schüchternheit des
Gewissens gibt uns zugleich den Leitfaden, durch welchen wir den Zusam¬
menhang zwischen den Reflexionen über Hamlet, den Schilderungen des
Schauspielerlebens und dem ernstern Theile des Romans herstellen. Hamlet
ist der Schlüssel zum Charakter des Helden, und die Bande Melinas der
Schlüssel zum Verständniß der adligen Welt. Da der Roman ein Gesammt-
gemälde der deutschen Gesellschaft sein soll, so ist die Kritik über Hamlet der
Mittelpunkt desselben.

Goethe hatte von frühester Jugend auf jenes andächtige Interesse fürs
Theater gehegt, welches wir bei den meisten unserer bildungsbedürftigen Dichter
wieder antreffen. Um von der künstlerischen Bestimmung des Schauspiels
einen höhern Begriff zu geben, war die Zerlegung eines Meisterwerks, zu
welchem die Nation, obgleich sie eS nicht verstand, sich durch einen wunder¬
baren Zauber hingezogen fühlte, das zweckmäßigste Hilfsmittel. In der Kritik
hat Goethe durch die Auslegung des Hamlet einen ebenso wichtigen Schritt
vorwärts gethan, als Lessing in seiner Dramaturgie, denn er zeigte, wie man
mit kühner und sichrer Hand aus dem Labyrinth verworrener Eindrücke daS
Wesentliche und Bedeutende herausgreifen müsse. Allein der Inhalt des
Stücks wurde ihm, ohne daß er daran dachte, wichtiger, als sein künstlerischer
Zusammenhang. Hamlet hatte nach allseitiger freier Ausbildung gestrebt, er
hatte seine Reflexion vollkommen frei gemacht, aber dadurch war sein Wille
bestimmungslos geworden, und als ihn nun ein gewaltiges Schicksal zur That
aufrief, erlag er der Größe seiner Bestimmung. Wilhelm Meister und sein
Dichter erkannten in sich selbst die nämliche Geistesrichtung, wenn ihnen auch
das Schicksal eine ähnliche Katastrophe ersparte. Es war die Geistesrichtung
der gesammten Nation, es war das Schicksal des deutschen Volks; nur daß
ein Volk ein längeres Leben und eine dauerhaftere Natur hat, daß sie, was
das Individuum vernichten muß, durch allmälige Entwicklung überwinden
kann. Wenn die spätere Barbarei der deutschen Literatur, welche das griechische
Maß der Schönheit aufgab, um die Lebensbeziehungen zur Wirklichkeit wie¬
derzufinden, einer Rechtfertigung bedarf, so liegt diese in Wilhelm Meister.

Der Roman strebt in seiner Darstellung der deutschen Gesellschaft nach
einer gewissen Allseitigkeit. Von den späteren Versuchen der Romantiker
unterscheidet er sich dadurch, daß er nicht ins Reich der Chimären flüchtet,
sondern das wirkliche Leben poetisirt. Nun vermissen wir aber unter den Classen,
die er darstellt, zunächst das wichtigste Moment des deutschen Volkslebens,
das Bürgerthum. Werner, der Repräsentant desselben, ist ein armseliges
Zerrbild. Die Arbeit, die sich einem bestimmten Zweck hingibt, und diesem


Vulpius; vor einem edlern und stärkern Gemüth hätte seine vornehme Art,
Gefühle und Beziehungen obenhin zu behandeln, nicht Stich gehalten.

Diese Unsicherheit in den Gefühlen, diese verschämte Schüchternheit des
Gewissens gibt uns zugleich den Leitfaden, durch welchen wir den Zusam¬
menhang zwischen den Reflexionen über Hamlet, den Schilderungen des
Schauspielerlebens und dem ernstern Theile des Romans herstellen. Hamlet
ist der Schlüssel zum Charakter des Helden, und die Bande Melinas der
Schlüssel zum Verständniß der adligen Welt. Da der Roman ein Gesammt-
gemälde der deutschen Gesellschaft sein soll, so ist die Kritik über Hamlet der
Mittelpunkt desselben.

Goethe hatte von frühester Jugend auf jenes andächtige Interesse fürs
Theater gehegt, welches wir bei den meisten unserer bildungsbedürftigen Dichter
wieder antreffen. Um von der künstlerischen Bestimmung des Schauspiels
einen höhern Begriff zu geben, war die Zerlegung eines Meisterwerks, zu
welchem die Nation, obgleich sie eS nicht verstand, sich durch einen wunder¬
baren Zauber hingezogen fühlte, das zweckmäßigste Hilfsmittel. In der Kritik
hat Goethe durch die Auslegung des Hamlet einen ebenso wichtigen Schritt
vorwärts gethan, als Lessing in seiner Dramaturgie, denn er zeigte, wie man
mit kühner und sichrer Hand aus dem Labyrinth verworrener Eindrücke daS
Wesentliche und Bedeutende herausgreifen müsse. Allein der Inhalt des
Stücks wurde ihm, ohne daß er daran dachte, wichtiger, als sein künstlerischer
Zusammenhang. Hamlet hatte nach allseitiger freier Ausbildung gestrebt, er
hatte seine Reflexion vollkommen frei gemacht, aber dadurch war sein Wille
bestimmungslos geworden, und als ihn nun ein gewaltiges Schicksal zur That
aufrief, erlag er der Größe seiner Bestimmung. Wilhelm Meister und sein
Dichter erkannten in sich selbst die nämliche Geistesrichtung, wenn ihnen auch
das Schicksal eine ähnliche Katastrophe ersparte. Es war die Geistesrichtung
der gesammten Nation, es war das Schicksal des deutschen Volks; nur daß
ein Volk ein längeres Leben und eine dauerhaftere Natur hat, daß sie, was
das Individuum vernichten muß, durch allmälige Entwicklung überwinden
kann. Wenn die spätere Barbarei der deutschen Literatur, welche das griechische
Maß der Schönheit aufgab, um die Lebensbeziehungen zur Wirklichkeit wie¬
derzufinden, einer Rechtfertigung bedarf, so liegt diese in Wilhelm Meister.

Der Roman strebt in seiner Darstellung der deutschen Gesellschaft nach
einer gewissen Allseitigkeit. Von den späteren Versuchen der Romantiker
unterscheidet er sich dadurch, daß er nicht ins Reich der Chimären flüchtet,
sondern das wirkliche Leben poetisirt. Nun vermissen wir aber unter den Classen,
die er darstellt, zunächst das wichtigste Moment des deutschen Volkslebens,
das Bürgerthum. Werner, der Repräsentant desselben, ist ein armseliges
Zerrbild. Die Arbeit, die sich einem bestimmten Zweck hingibt, und diesem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/456>, abgerufen am 25.08.2024.