Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einer schönen, individuellen Natur mit sich selbst; aber sie suchen dieses Ideal
auf dem umgekehrten Wege: Werther durch die Einkehr in sein eigenes Gemüth,
Meister durch das Heraustreten aus sich sell'se; Werther durch die Natur,
Meister durch die Kunst; Werther durch die Leidenschaft, Meister durch die
Entsagung. Werther sucht die Einheit seines Gemüths in der Flucht aus
den Schranken der Gesellschaft, welche ihn in letzter Konsequenz zum Selbst¬
mord treibt, Meister in der Unterwerfung unter die Formen der Gesellschaft,
die ihn zur Heirath mit einer Adligen, aber auch zur vollendeten Unfreiheit
führt. Der Eine entflieht, der Andere fügt sich.

Die veränderte Tendenz zeigt sich sogleich in dem Verhältniß des Dichters
zu seinem Helden. Man hat die Schwächen Wilhelms überall sehr richtig
herausgefühlt, man hat sie sogar übertrieben, denn es liegt in der Natur
eines Nomancharakters, daß er immer geneigt ist, sich zu verwickeln, nie die
Kraft hat, die geschürzten Knoten wieder zu lösen und sich daher unaufhörlich
dem Zufall in die Hände gibt; und Wilhelm ist doch in der Anlage eine sehr
edle Natur. Aber fast allgemein hat man übersehen, daß ihn der Dichter
ironisch behandelt. Ganz anders war es im Werther. Der erste Theil dieses
wundervollen Gedichts war die Geschichte des Dichters selbst. Den unglückli¬
chen Ausgang des zweiten Theils ersparte er sich zwar durch eine edle und
kräftige Bekämpfung seiner Leidenschaft, aber in der Darstellung ist er durchaus
ehrlich und hingerissen. Seine Phantasie malt ihm die Möglichkeit einer
folgerichtigen Entwicklung aus, die in der Dichtung, wo die zufälligen
Nebenumstände verschwinden, zur tragischen Nothwendigkeit wird. Im Meister
schildert er auch die Geschichte seines eignen Denkens und Empfindens, aber
die Geschichte, von der er durch eine tiefe Kluft getrennt war. Unendlich
liebenswürdig ist diese Schalkhaftigkeit in der Darstellung des Verhältnisses
zwischen Wilhelm und Philine, einem der reizendsten Gemälde, welche die
sinnliche Poesie hervorgebracht hat. Häßlich und unwahr dagegen erscheint
die Ironie bei dem Tode Aureliens. Wilhelm nimmt sich vor, dem Verführer
seiner Freundin ins Gewissen zu reden; der Dichter drückt seinen Spott über
dieses.Vorhaben dadurch aus, daß er ihn seine Strafpredigt aufsetzen und
memoriren läßt. Nun tritt ihm der Verführer entgegen, behandelt den Tod
seiner ehemaligen Geliebten wider Erwarten als eine Bagatelle; und anstatt
dadurch zu heftigerer Erbitterung gereizt zu werden und seine Strafpredigt,
gleichviel ob verdient oder unverdient, zu schärfen, geräth Wilhelm in Ver¬
wirrung und schämt sich zu Tode. Der leichtfertige Edelmann imponirt dem
ehrlichen Bürger. Wir fürchten, daß das ursprüngliche Gefühl Meisters
richtiger war, als seine Reflexion. Mit den Lydien und, Theresen mochte sich
der Baron Lvthario ins Reine stellen, wie der Dichter selbst mit Christiane


einer schönen, individuellen Natur mit sich selbst; aber sie suchen dieses Ideal
auf dem umgekehrten Wege: Werther durch die Einkehr in sein eigenes Gemüth,
Meister durch das Heraustreten aus sich sell'se; Werther durch die Natur,
Meister durch die Kunst; Werther durch die Leidenschaft, Meister durch die
Entsagung. Werther sucht die Einheit seines Gemüths in der Flucht aus
den Schranken der Gesellschaft, welche ihn in letzter Konsequenz zum Selbst¬
mord treibt, Meister in der Unterwerfung unter die Formen der Gesellschaft,
die ihn zur Heirath mit einer Adligen, aber auch zur vollendeten Unfreiheit
führt. Der Eine entflieht, der Andere fügt sich.

Die veränderte Tendenz zeigt sich sogleich in dem Verhältniß des Dichters
zu seinem Helden. Man hat die Schwächen Wilhelms überall sehr richtig
herausgefühlt, man hat sie sogar übertrieben, denn es liegt in der Natur
eines Nomancharakters, daß er immer geneigt ist, sich zu verwickeln, nie die
Kraft hat, die geschürzten Knoten wieder zu lösen und sich daher unaufhörlich
dem Zufall in die Hände gibt; und Wilhelm ist doch in der Anlage eine sehr
edle Natur. Aber fast allgemein hat man übersehen, daß ihn der Dichter
ironisch behandelt. Ganz anders war es im Werther. Der erste Theil dieses
wundervollen Gedichts war die Geschichte des Dichters selbst. Den unglückli¬
chen Ausgang des zweiten Theils ersparte er sich zwar durch eine edle und
kräftige Bekämpfung seiner Leidenschaft, aber in der Darstellung ist er durchaus
ehrlich und hingerissen. Seine Phantasie malt ihm die Möglichkeit einer
folgerichtigen Entwicklung aus, die in der Dichtung, wo die zufälligen
Nebenumstände verschwinden, zur tragischen Nothwendigkeit wird. Im Meister
schildert er auch die Geschichte seines eignen Denkens und Empfindens, aber
die Geschichte, von der er durch eine tiefe Kluft getrennt war. Unendlich
liebenswürdig ist diese Schalkhaftigkeit in der Darstellung des Verhältnisses
zwischen Wilhelm und Philine, einem der reizendsten Gemälde, welche die
sinnliche Poesie hervorgebracht hat. Häßlich und unwahr dagegen erscheint
die Ironie bei dem Tode Aureliens. Wilhelm nimmt sich vor, dem Verführer
seiner Freundin ins Gewissen zu reden; der Dichter drückt seinen Spott über
dieses.Vorhaben dadurch aus, daß er ihn seine Strafpredigt aufsetzen und
memoriren läßt. Nun tritt ihm der Verführer entgegen, behandelt den Tod
seiner ehemaligen Geliebten wider Erwarten als eine Bagatelle; und anstatt
dadurch zu heftigerer Erbitterung gereizt zu werden und seine Strafpredigt,
gleichviel ob verdient oder unverdient, zu schärfen, geräth Wilhelm in Ver¬
wirrung und schämt sich zu Tode. Der leichtfertige Edelmann imponirt dem
ehrlichen Bürger. Wir fürchten, daß das ursprüngliche Gefühl Meisters
richtiger war, als seine Reflexion. Mit den Lydien und, Theresen mochte sich
der Baron Lvthario ins Reine stellen, wie der Dichter selbst mit Christiane


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99841"/>
          <p xml:id="ID_1540" prev="#ID_1539"> einer schönen, individuellen Natur mit sich selbst; aber sie suchen dieses Ideal<lb/>
auf dem umgekehrten Wege: Werther durch die Einkehr in sein eigenes Gemüth,<lb/>
Meister durch das Heraustreten aus sich sell'se; Werther durch die Natur,<lb/>
Meister durch die Kunst; Werther durch die Leidenschaft, Meister durch die<lb/>
Entsagung. Werther sucht die Einheit seines Gemüths in der Flucht aus<lb/>
den Schranken der Gesellschaft, welche ihn in letzter Konsequenz zum Selbst¬<lb/>
mord treibt, Meister in der Unterwerfung unter die Formen der Gesellschaft,<lb/>
die ihn zur Heirath mit einer Adligen, aber auch zur vollendeten Unfreiheit<lb/>
führt.  Der Eine entflieht, der Andere fügt sich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1541" next="#ID_1542"> Die veränderte Tendenz zeigt sich sogleich in dem Verhältniß des Dichters<lb/>
zu seinem Helden. Man hat die Schwächen Wilhelms überall sehr richtig<lb/>
herausgefühlt, man hat sie sogar übertrieben, denn es liegt in der Natur<lb/>
eines Nomancharakters, daß er immer geneigt ist, sich zu verwickeln, nie die<lb/>
Kraft hat, die geschürzten Knoten wieder zu lösen und sich daher unaufhörlich<lb/>
dem Zufall in die Hände gibt; und Wilhelm ist doch in der Anlage eine sehr<lb/>
edle Natur. Aber fast allgemein hat man übersehen, daß ihn der Dichter<lb/>
ironisch behandelt. Ganz anders war es im Werther. Der erste Theil dieses<lb/>
wundervollen Gedichts war die Geschichte des Dichters selbst. Den unglückli¬<lb/>
chen Ausgang des zweiten Theils ersparte er sich zwar durch eine edle und<lb/>
kräftige Bekämpfung seiner Leidenschaft, aber in der Darstellung ist er durchaus<lb/>
ehrlich und hingerissen. Seine Phantasie malt ihm die Möglichkeit einer<lb/>
folgerichtigen Entwicklung aus, die in der Dichtung, wo die zufälligen<lb/>
Nebenumstände verschwinden, zur tragischen Nothwendigkeit wird. Im Meister<lb/>
schildert er auch die Geschichte seines eignen Denkens und Empfindens, aber<lb/>
die Geschichte, von der er durch eine tiefe Kluft getrennt war. Unendlich<lb/>
liebenswürdig ist diese Schalkhaftigkeit in der Darstellung des Verhältnisses<lb/>
zwischen Wilhelm und Philine, einem der reizendsten Gemälde, welche die<lb/>
sinnliche Poesie hervorgebracht hat. Häßlich und unwahr dagegen erscheint<lb/>
die Ironie bei dem Tode Aureliens. Wilhelm nimmt sich vor, dem Verführer<lb/>
seiner Freundin ins Gewissen zu reden; der Dichter drückt seinen Spott über<lb/>
dieses.Vorhaben dadurch aus, daß er ihn seine Strafpredigt aufsetzen und<lb/>
memoriren läßt. Nun tritt ihm der Verführer entgegen, behandelt den Tod<lb/>
seiner ehemaligen Geliebten wider Erwarten als eine Bagatelle; und anstatt<lb/>
dadurch zu heftigerer Erbitterung gereizt zu werden und seine Strafpredigt,<lb/>
gleichviel ob verdient oder unverdient, zu schärfen, geräth Wilhelm in Ver¬<lb/>
wirrung und schämt sich zu Tode. Der leichtfertige Edelmann imponirt dem<lb/>
ehrlichen Bürger. Wir fürchten, daß das ursprüngliche Gefühl Meisters<lb/>
richtiger war, als seine Reflexion. Mit den Lydien und, Theresen mochte sich<lb/>
der Baron Lvthario ins Reine stellen, wie der Dichter selbst mit Christiane</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0455] einer schönen, individuellen Natur mit sich selbst; aber sie suchen dieses Ideal auf dem umgekehrten Wege: Werther durch die Einkehr in sein eigenes Gemüth, Meister durch das Heraustreten aus sich sell'se; Werther durch die Natur, Meister durch die Kunst; Werther durch die Leidenschaft, Meister durch die Entsagung. Werther sucht die Einheit seines Gemüths in der Flucht aus den Schranken der Gesellschaft, welche ihn in letzter Konsequenz zum Selbst¬ mord treibt, Meister in der Unterwerfung unter die Formen der Gesellschaft, die ihn zur Heirath mit einer Adligen, aber auch zur vollendeten Unfreiheit führt. Der Eine entflieht, der Andere fügt sich. Die veränderte Tendenz zeigt sich sogleich in dem Verhältniß des Dichters zu seinem Helden. Man hat die Schwächen Wilhelms überall sehr richtig herausgefühlt, man hat sie sogar übertrieben, denn es liegt in der Natur eines Nomancharakters, daß er immer geneigt ist, sich zu verwickeln, nie die Kraft hat, die geschürzten Knoten wieder zu lösen und sich daher unaufhörlich dem Zufall in die Hände gibt; und Wilhelm ist doch in der Anlage eine sehr edle Natur. Aber fast allgemein hat man übersehen, daß ihn der Dichter ironisch behandelt. Ganz anders war es im Werther. Der erste Theil dieses wundervollen Gedichts war die Geschichte des Dichters selbst. Den unglückli¬ chen Ausgang des zweiten Theils ersparte er sich zwar durch eine edle und kräftige Bekämpfung seiner Leidenschaft, aber in der Darstellung ist er durchaus ehrlich und hingerissen. Seine Phantasie malt ihm die Möglichkeit einer folgerichtigen Entwicklung aus, die in der Dichtung, wo die zufälligen Nebenumstände verschwinden, zur tragischen Nothwendigkeit wird. Im Meister schildert er auch die Geschichte seines eignen Denkens und Empfindens, aber die Geschichte, von der er durch eine tiefe Kluft getrennt war. Unendlich liebenswürdig ist diese Schalkhaftigkeit in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Wilhelm und Philine, einem der reizendsten Gemälde, welche die sinnliche Poesie hervorgebracht hat. Häßlich und unwahr dagegen erscheint die Ironie bei dem Tode Aureliens. Wilhelm nimmt sich vor, dem Verführer seiner Freundin ins Gewissen zu reden; der Dichter drückt seinen Spott über dieses.Vorhaben dadurch aus, daß er ihn seine Strafpredigt aufsetzen und memoriren läßt. Nun tritt ihm der Verführer entgegen, behandelt den Tod seiner ehemaligen Geliebten wider Erwarten als eine Bagatelle; und anstatt dadurch zu heftigerer Erbitterung gereizt zu werden und seine Strafpredigt, gleichviel ob verdient oder unverdient, zu schärfen, geräth Wilhelm in Ver¬ wirrung und schämt sich zu Tode. Der leichtfertige Edelmann imponirt dem ehrlichen Bürger. Wir fürchten, daß das ursprüngliche Gefühl Meisters richtiger war, als seine Reflexion. Mit den Lydien und, Theresen mochte sich der Baron Lvthario ins Reine stellen, wie der Dichter selbst mit Christiane

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/455
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/455>, abgerufen am 25.08.2024.