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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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zu übersteigen drohten. Dann wünscht ich mir Jakobs Leiter! aber umsonst,
ich mußte fort. Ich ward traurig, und alles stimmte in meine Trauer ein. Ein¬
same Vögel flatterten matt und mißmuthig über mir her, und die großen Herbst¬
fliegen summsten mir so melancholisch um die Ohren, daß ich weinen mußte. Dann
fror ich fast noch mehr als am frühen Morgen, und empfand Schmerzen an den
Füßen, obgleich diese so hart als Sohlleder waren. Auch hatt ich die meiste
Zeit Wunden oder Beulen an ein paar Gliedern; und wenn eine Blessur heil
war, macht ich mir richtig wieder eine andre; sprang enjweder auf einen spitzen
Stein auf, verlor einen Nagel oder ein Stück Haut an einem Zehen, oder
hieb mir mit meinen Instrumenten eins in die Finger. Ans Verbinden war
selten zu gedenken; und doch gings meist bald vorüber. -- Die Geisen hier-
nächst machten mir, wie schon gesagt, anfangs großen Verdruß, wenn sie mir
nicht gehorchen wollten, weil ich ihnen nicht recht zu befehlen verstuhnd. --
Ferner prügelte mich der Vater nicht selten, wenn ich nicht hütete, wo er mir
befohlen hatte, und nur hinfuhr, wo ich gern sein mochte, und die Geisen
dann nicht daS rechte Bauchmaß heimbrachten, oder er sonst ein loses Stück¬
lein von mir erfuhr. Dann hat ein Geisbub überhaupt viel von andern
Leuten zu leiden. Wer will aber einen Fasel Geisen immer so in Schranken
halten, daß sie nicht etwa einem Nachbar in die Wiesen oder Weib gucken?
Wer mit soviel lüsternen Thieren zwischen Korn- und Haberbrachen, Nüb-
unb Kabisäckern durchfahren, daß keins kein Maulvoll versuchte? Da gings
dann an ein Fluchen und Lamentireu! Bärenhäuter! Galgenvogel! waren
meine gewöhnlichen Ehrentitel. Man sprang mir mit Arten, Prügeln und
Hagstecken -- einst gar einer mit einer Sense nach; der schwur, mir ein Bein
vom Leib wegzuhauen. Aber ich war leicht genug auf den Füßen; und nie
Hai mich einer erwischen mögen. Die schuldigen Geisen wol haben sie mir
oft ertappt, und mit Arrest belegt; dann mußte mein Vater hin und sie lösen.
Fand er mich schuldig, so gabs Schläge. Etliche unsrer Nachbarn waren mir
ganz besonders widerwärtig, und richteten mir manchen Streich auf den Rücken.
Dann dacht ich freilich: Wartet nur, ihr Kerls, bis mir eure Schuh recht
sind, so will ich Euch auch die Buckel salben! Aber man vergißts; und das
ist gut. ' Und dann hat das Sprichwort doch auch seinen wahren Sinn:
"Wer will ein Bidermann sein und heißen, der hüt sich vor Tauben und
Geisen." -- So gibt es freilich dieser und anderer Widerwärtigkeiten genug
in dem Hirlenstand. Aber die bösen Tage werden reichlich von den guten
ersetzt, wo's dann gewiß keinem König so wohl ist.

Im Kohlwalb war eine Buche; grad über einem mehr als thurmhohen
Fels herausgewachsen, so daß ich über ihren Stamm wie über einen Steg
spazieren, und in eine gräßlich finstre Tiefe hinabgucken konnte; wo die Aeste
angingen, stand' sie wieder grad auf. In dieses seltsame Nest bin ich vfr ge-


zu übersteigen drohten. Dann wünscht ich mir Jakobs Leiter! aber umsonst,
ich mußte fort. Ich ward traurig, und alles stimmte in meine Trauer ein. Ein¬
same Vögel flatterten matt und mißmuthig über mir her, und die großen Herbst¬
fliegen summsten mir so melancholisch um die Ohren, daß ich weinen mußte. Dann
fror ich fast noch mehr als am frühen Morgen, und empfand Schmerzen an den
Füßen, obgleich diese so hart als Sohlleder waren. Auch hatt ich die meiste
Zeit Wunden oder Beulen an ein paar Gliedern; und wenn eine Blessur heil
war, macht ich mir richtig wieder eine andre; sprang enjweder auf einen spitzen
Stein auf, verlor einen Nagel oder ein Stück Haut an einem Zehen, oder
hieb mir mit meinen Instrumenten eins in die Finger. Ans Verbinden war
selten zu gedenken; und doch gings meist bald vorüber. — Die Geisen hier-
nächst machten mir, wie schon gesagt, anfangs großen Verdruß, wenn sie mir
nicht gehorchen wollten, weil ich ihnen nicht recht zu befehlen verstuhnd. —
Ferner prügelte mich der Vater nicht selten, wenn ich nicht hütete, wo er mir
befohlen hatte, und nur hinfuhr, wo ich gern sein mochte, und die Geisen
dann nicht daS rechte Bauchmaß heimbrachten, oder er sonst ein loses Stück¬
lein von mir erfuhr. Dann hat ein Geisbub überhaupt viel von andern
Leuten zu leiden. Wer will aber einen Fasel Geisen immer so in Schranken
halten, daß sie nicht etwa einem Nachbar in die Wiesen oder Weib gucken?
Wer mit soviel lüsternen Thieren zwischen Korn- und Haberbrachen, Nüb-
unb Kabisäckern durchfahren, daß keins kein Maulvoll versuchte? Da gings
dann an ein Fluchen und Lamentireu! Bärenhäuter! Galgenvogel! waren
meine gewöhnlichen Ehrentitel. Man sprang mir mit Arten, Prügeln und
Hagstecken — einst gar einer mit einer Sense nach; der schwur, mir ein Bein
vom Leib wegzuhauen. Aber ich war leicht genug auf den Füßen; und nie
Hai mich einer erwischen mögen. Die schuldigen Geisen wol haben sie mir
oft ertappt, und mit Arrest belegt; dann mußte mein Vater hin und sie lösen.
Fand er mich schuldig, so gabs Schläge. Etliche unsrer Nachbarn waren mir
ganz besonders widerwärtig, und richteten mir manchen Streich auf den Rücken.
Dann dacht ich freilich: Wartet nur, ihr Kerls, bis mir eure Schuh recht
sind, so will ich Euch auch die Buckel salben! Aber man vergißts; und das
ist gut. ' Und dann hat das Sprichwort doch auch seinen wahren Sinn:
„Wer will ein Bidermann sein und heißen, der hüt sich vor Tauben und
Geisen." — So gibt es freilich dieser und anderer Widerwärtigkeiten genug
in dem Hirlenstand. Aber die bösen Tage werden reichlich von den guten
ersetzt, wo's dann gewiß keinem König so wohl ist.

Im Kohlwalb war eine Buche; grad über einem mehr als thurmhohen
Fels herausgewachsen, so daß ich über ihren Stamm wie über einen Steg
spazieren, und in eine gräßlich finstre Tiefe hinabgucken konnte; wo die Aeste
angingen, stand' sie wieder grad auf. In dieses seltsame Nest bin ich vfr ge-


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[0434] zu übersteigen drohten. Dann wünscht ich mir Jakobs Leiter! aber umsonst, ich mußte fort. Ich ward traurig, und alles stimmte in meine Trauer ein. Ein¬ same Vögel flatterten matt und mißmuthig über mir her, und die großen Herbst¬ fliegen summsten mir so melancholisch um die Ohren, daß ich weinen mußte. Dann fror ich fast noch mehr als am frühen Morgen, und empfand Schmerzen an den Füßen, obgleich diese so hart als Sohlleder waren. Auch hatt ich die meiste Zeit Wunden oder Beulen an ein paar Gliedern; und wenn eine Blessur heil war, macht ich mir richtig wieder eine andre; sprang enjweder auf einen spitzen Stein auf, verlor einen Nagel oder ein Stück Haut an einem Zehen, oder hieb mir mit meinen Instrumenten eins in die Finger. Ans Verbinden war selten zu gedenken; und doch gings meist bald vorüber. — Die Geisen hier- nächst machten mir, wie schon gesagt, anfangs großen Verdruß, wenn sie mir nicht gehorchen wollten, weil ich ihnen nicht recht zu befehlen verstuhnd. — Ferner prügelte mich der Vater nicht selten, wenn ich nicht hütete, wo er mir befohlen hatte, und nur hinfuhr, wo ich gern sein mochte, und die Geisen dann nicht daS rechte Bauchmaß heimbrachten, oder er sonst ein loses Stück¬ lein von mir erfuhr. Dann hat ein Geisbub überhaupt viel von andern Leuten zu leiden. Wer will aber einen Fasel Geisen immer so in Schranken halten, daß sie nicht etwa einem Nachbar in die Wiesen oder Weib gucken? Wer mit soviel lüsternen Thieren zwischen Korn- und Haberbrachen, Nüb- unb Kabisäckern durchfahren, daß keins kein Maulvoll versuchte? Da gings dann an ein Fluchen und Lamentireu! Bärenhäuter! Galgenvogel! waren meine gewöhnlichen Ehrentitel. Man sprang mir mit Arten, Prügeln und Hagstecken — einst gar einer mit einer Sense nach; der schwur, mir ein Bein vom Leib wegzuhauen. Aber ich war leicht genug auf den Füßen; und nie Hai mich einer erwischen mögen. Die schuldigen Geisen wol haben sie mir oft ertappt, und mit Arrest belegt; dann mußte mein Vater hin und sie lösen. Fand er mich schuldig, so gabs Schläge. Etliche unsrer Nachbarn waren mir ganz besonders widerwärtig, und richteten mir manchen Streich auf den Rücken. Dann dacht ich freilich: Wartet nur, ihr Kerls, bis mir eure Schuh recht sind, so will ich Euch auch die Buckel salben! Aber man vergißts; und das ist gut. ' Und dann hat das Sprichwort doch auch seinen wahren Sinn: „Wer will ein Bidermann sein und heißen, der hüt sich vor Tauben und Geisen." — So gibt es freilich dieser und anderer Widerwärtigkeiten genug in dem Hirlenstand. Aber die bösen Tage werden reichlich von den guten ersetzt, wo's dann gewiß keinem König so wohl ist. Im Kohlwalb war eine Buche; grad über einem mehr als thurmhohen Fels herausgewachsen, so daß ich über ihren Stamm wie über einen Steg spazieren, und in eine gräßlich finstre Tiefe hinabgucken konnte; wo die Aeste angingen, stand' sie wieder grad auf. In dieses seltsame Nest bin ich vfr ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/434>, abgerufen am 22.07.2024.