Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gehen, aber eS war gleich Nacht. Noch kroch ich von einem Baum zum andern,
an den Wurzeln den Abhang hernieder; das kam daher, weil etliche Wurzeln
freilagen und die Erddecke an der steilen Halde zerrissen war. Da es aber
ganz finster war und ich empfand, daß es gar steil war, gedachte ich nicht
weiter zu schleichen- sondern hielt mich mit der linken Hand an eine Wurzel,
mit der andern kratzte ich den Boden unter Baum und Wurzeln weg. Ich
horte, wie der Boden hinunterrieselte. Da stieß ich den Rücken und Hintern
unter die Wurzeln, hatte nichts als das Hemdlein, hatte weder Schuh noch
Hütlein, denn das Röckel hatte ich bei der Wasserlcite liegen lassen, vor Angst,
weil ich die Geise verloren hatte. Wie ich nun so unter dem Baume liege,
waren meiner die Raben inne geworden, sie schrien auf dem Baume; da war
mir gar sehr Angst, denn ich fürchtete, der Bär wäre in der Nähe, ich ge-
segnete mich und entschlief und blieb so schlafend liegen, bis am Morgen die
Sonne über alle Berge schien. Als ich aber erwachte und sah, wo ich war,
weiß ich nicht, ob ich mein Lebtag mehr erschrocken bin, denn wenn ich noch
zwei Klaftern wäre tiefer gegangen, so wäre ich über eine grausam, hohe Flue
hinabgefallen, viele tausend Klaftern tief. Da war ich in großer Angst, wie
ich von bannen kommen sollte, ich zog mich wieder über mich von einer
Wurzel zur andern, bis ich wieder dahin kam, wo ich den Berg hinab ans
die Häuser zulaufen konnte. Wie ich auf dem Wald und fast bei den Häusern
war, kommt mir ein Maidlein mit den Geisen entgegen. Sie wollte sie
wieder austreiben, denn sie waren des Nachts selber heimgelaufen. Denn das
Volk, bei dem ich diente, war nicht übel erschrocken, als ich nicht mit den
Geisen kam, sie meinten, ich wäre zu Tode gefallen, fragten meine Base und
das Volk in dem Hause, darinnen ich gebpren war, ob sie nichts von mir
wüßten, ich wäre nicht mit den Geisen heimkommen. Da war meine Base
und meines Meisters alte Frau die ganze Nacht auf den Knien gelegen und
hatten Gott gebeten, daß er mich behüten möchte, so ich noch am Leben
wäre. Demnach wollten sie mich nicht mehr lassen Geisen hüten, von wegen
daß sie so übel erschrocken waren.

Während ich bei dem Meister gewesen bin und die Geise gehütet habe,
bin ich einmal in einen Kessel mit heißer Milch, der ob dem Feuer war, ge¬
fallen und hab mich dermaßen verbrannt, daß die Mahle mein Lebenlang sind
gesehen worden. So bin auch noch zweimal bei ihm in Gefahr gewesen.
Einmal waren wir unser zwei Hirtlein im Walde, redeten mancherlei kindlich
Ding; unter andevn wünschten wir, daß wir fliegen könnten, dann wollten
wir über den Berg aus dem Land nach Deutschland fliegen (so nennt man in
Wallis die Eidgenossenschaft), da kam ein grausam großer Vogel auf uns ge¬
schossen, daß wir meinten, er wollte einen oder beide hinwegtragen; da singen
wir beide an zu schreien, mit dem Hirtenstäblein zu wehren und uns zu ge-


gehen, aber eS war gleich Nacht. Noch kroch ich von einem Baum zum andern,
an den Wurzeln den Abhang hernieder; das kam daher, weil etliche Wurzeln
freilagen und die Erddecke an der steilen Halde zerrissen war. Da es aber
ganz finster war und ich empfand, daß es gar steil war, gedachte ich nicht
weiter zu schleichen- sondern hielt mich mit der linken Hand an eine Wurzel,
mit der andern kratzte ich den Boden unter Baum und Wurzeln weg. Ich
horte, wie der Boden hinunterrieselte. Da stieß ich den Rücken und Hintern
unter die Wurzeln, hatte nichts als das Hemdlein, hatte weder Schuh noch
Hütlein, denn das Röckel hatte ich bei der Wasserlcite liegen lassen, vor Angst,
weil ich die Geise verloren hatte. Wie ich nun so unter dem Baume liege,
waren meiner die Raben inne geworden, sie schrien auf dem Baume; da war
mir gar sehr Angst, denn ich fürchtete, der Bär wäre in der Nähe, ich ge-
segnete mich und entschlief und blieb so schlafend liegen, bis am Morgen die
Sonne über alle Berge schien. Als ich aber erwachte und sah, wo ich war,
weiß ich nicht, ob ich mein Lebtag mehr erschrocken bin, denn wenn ich noch
zwei Klaftern wäre tiefer gegangen, so wäre ich über eine grausam, hohe Flue
hinabgefallen, viele tausend Klaftern tief. Da war ich in großer Angst, wie
ich von bannen kommen sollte, ich zog mich wieder über mich von einer
Wurzel zur andern, bis ich wieder dahin kam, wo ich den Berg hinab ans
die Häuser zulaufen konnte. Wie ich auf dem Wald und fast bei den Häusern
war, kommt mir ein Maidlein mit den Geisen entgegen. Sie wollte sie
wieder austreiben, denn sie waren des Nachts selber heimgelaufen. Denn das
Volk, bei dem ich diente, war nicht übel erschrocken, als ich nicht mit den
Geisen kam, sie meinten, ich wäre zu Tode gefallen, fragten meine Base und
das Volk in dem Hause, darinnen ich gebpren war, ob sie nichts von mir
wüßten, ich wäre nicht mit den Geisen heimkommen. Da war meine Base
und meines Meisters alte Frau die ganze Nacht auf den Knien gelegen und
hatten Gott gebeten, daß er mich behüten möchte, so ich noch am Leben
wäre. Demnach wollten sie mich nicht mehr lassen Geisen hüten, von wegen
daß sie so übel erschrocken waren.

Während ich bei dem Meister gewesen bin und die Geise gehütet habe,
bin ich einmal in einen Kessel mit heißer Milch, der ob dem Feuer war, ge¬
fallen und hab mich dermaßen verbrannt, daß die Mahle mein Lebenlang sind
gesehen worden. So bin auch noch zweimal bei ihm in Gefahr gewesen.
Einmal waren wir unser zwei Hirtlein im Walde, redeten mancherlei kindlich
Ding; unter andevn wünschten wir, daß wir fliegen könnten, dann wollten
wir über den Berg aus dem Land nach Deutschland fliegen (so nennt man in
Wallis die Eidgenossenschaft), da kam ein grausam großer Vogel auf uns ge¬
schossen, daß wir meinten, er wollte einen oder beide hinwegtragen; da singen
wir beide an zu schreien, mit dem Hirtenstäblein zu wehren und uns zu ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0430" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99816"/>
              <p xml:id="ID_1466" prev="#ID_1465"> gehen, aber eS war gleich Nacht. Noch kroch ich von einem Baum zum andern,<lb/>
an den Wurzeln den Abhang hernieder; das kam daher, weil etliche Wurzeln<lb/>
freilagen und die Erddecke an der steilen Halde zerrissen war. Da es aber<lb/>
ganz finster war und ich empfand, daß es gar steil war, gedachte ich nicht<lb/>
weiter zu schleichen- sondern hielt mich mit der linken Hand an eine Wurzel,<lb/>
mit der andern kratzte ich den Boden unter Baum und Wurzeln weg. Ich<lb/>
horte, wie der Boden hinunterrieselte. Da stieß ich den Rücken und Hintern<lb/>
unter die Wurzeln, hatte nichts als das Hemdlein, hatte weder Schuh noch<lb/>
Hütlein, denn das Röckel hatte ich bei der Wasserlcite liegen lassen, vor Angst,<lb/>
weil ich die Geise verloren hatte. Wie ich nun so unter dem Baume liege,<lb/>
waren meiner die Raben inne geworden, sie schrien auf dem Baume; da war<lb/>
mir gar sehr Angst, denn ich fürchtete, der Bär wäre in der Nähe, ich ge-<lb/>
segnete mich und entschlief und blieb so schlafend liegen, bis am Morgen die<lb/>
Sonne über alle Berge schien. Als ich aber erwachte und sah, wo ich war,<lb/>
weiß ich nicht, ob ich mein Lebtag mehr erschrocken bin, denn wenn ich noch<lb/>
zwei Klaftern wäre tiefer gegangen, so wäre ich über eine grausam, hohe Flue<lb/>
hinabgefallen, viele tausend Klaftern tief. Da war ich in großer Angst, wie<lb/>
ich von bannen kommen sollte, ich zog mich wieder über mich von einer<lb/>
Wurzel zur andern, bis ich wieder dahin kam, wo ich den Berg hinab ans<lb/>
die Häuser zulaufen konnte. Wie ich auf dem Wald und fast bei den Häusern<lb/>
war, kommt mir ein Maidlein mit den Geisen entgegen. Sie wollte sie<lb/>
wieder austreiben, denn sie waren des Nachts selber heimgelaufen. Denn das<lb/>
Volk, bei dem ich diente, war nicht übel erschrocken, als ich nicht mit den<lb/>
Geisen kam, sie meinten, ich wäre zu Tode gefallen, fragten meine Base und<lb/>
das Volk in dem Hause, darinnen ich gebpren war, ob sie nichts von mir<lb/>
wüßten, ich wäre nicht mit den Geisen heimkommen. Da war meine Base<lb/>
und meines Meisters alte Frau die ganze Nacht auf den Knien gelegen und<lb/>
hatten Gott gebeten, daß er mich behüten möchte, so ich noch am Leben<lb/>
wäre. Demnach wollten sie mich nicht mehr lassen Geisen hüten, von wegen<lb/>
daß sie so übel erschrocken waren.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1467" next="#ID_1468"> Während ich bei dem Meister gewesen bin und die Geise gehütet habe,<lb/>
bin ich einmal in einen Kessel mit heißer Milch, der ob dem Feuer war, ge¬<lb/>
fallen und hab mich dermaßen verbrannt, daß die Mahle mein Lebenlang sind<lb/>
gesehen worden. So bin auch noch zweimal bei ihm in Gefahr gewesen.<lb/>
Einmal waren wir unser zwei Hirtlein im Walde, redeten mancherlei kindlich<lb/>
Ding; unter andevn wünschten wir, daß wir fliegen könnten, dann wollten<lb/>
wir über den Berg aus dem Land nach Deutschland fliegen (so nennt man in<lb/>
Wallis die Eidgenossenschaft), da kam ein grausam großer Vogel auf uns ge¬<lb/>
schossen, daß wir meinten, er wollte einen oder beide hinwegtragen; da singen<lb/>
wir beide an zu schreien, mit dem Hirtenstäblein zu wehren und uns zu ge-</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0430] gehen, aber eS war gleich Nacht. Noch kroch ich von einem Baum zum andern, an den Wurzeln den Abhang hernieder; das kam daher, weil etliche Wurzeln freilagen und die Erddecke an der steilen Halde zerrissen war. Da es aber ganz finster war und ich empfand, daß es gar steil war, gedachte ich nicht weiter zu schleichen- sondern hielt mich mit der linken Hand an eine Wurzel, mit der andern kratzte ich den Boden unter Baum und Wurzeln weg. Ich horte, wie der Boden hinunterrieselte. Da stieß ich den Rücken und Hintern unter die Wurzeln, hatte nichts als das Hemdlein, hatte weder Schuh noch Hütlein, denn das Röckel hatte ich bei der Wasserlcite liegen lassen, vor Angst, weil ich die Geise verloren hatte. Wie ich nun so unter dem Baume liege, waren meiner die Raben inne geworden, sie schrien auf dem Baume; da war mir gar sehr Angst, denn ich fürchtete, der Bär wäre in der Nähe, ich ge- segnete mich und entschlief und blieb so schlafend liegen, bis am Morgen die Sonne über alle Berge schien. Als ich aber erwachte und sah, wo ich war, weiß ich nicht, ob ich mein Lebtag mehr erschrocken bin, denn wenn ich noch zwei Klaftern wäre tiefer gegangen, so wäre ich über eine grausam, hohe Flue hinabgefallen, viele tausend Klaftern tief. Da war ich in großer Angst, wie ich von bannen kommen sollte, ich zog mich wieder über mich von einer Wurzel zur andern, bis ich wieder dahin kam, wo ich den Berg hinab ans die Häuser zulaufen konnte. Wie ich auf dem Wald und fast bei den Häusern war, kommt mir ein Maidlein mit den Geisen entgegen. Sie wollte sie wieder austreiben, denn sie waren des Nachts selber heimgelaufen. Denn das Volk, bei dem ich diente, war nicht übel erschrocken, als ich nicht mit den Geisen kam, sie meinten, ich wäre zu Tode gefallen, fragten meine Base und das Volk in dem Hause, darinnen ich gebpren war, ob sie nichts von mir wüßten, ich wäre nicht mit den Geisen heimkommen. Da war meine Base und meines Meisters alte Frau die ganze Nacht auf den Knien gelegen und hatten Gott gebeten, daß er mich behüten möchte, so ich noch am Leben wäre. Demnach wollten sie mich nicht mehr lassen Geisen hüten, von wegen daß sie so übel erschrocken waren. Während ich bei dem Meister gewesen bin und die Geise gehütet habe, bin ich einmal in einen Kessel mit heißer Milch, der ob dem Feuer war, ge¬ fallen und hab mich dermaßen verbrannt, daß die Mahle mein Lebenlang sind gesehen worden. So bin auch noch zweimal bei ihm in Gefahr gewesen. Einmal waren wir unser zwei Hirtlein im Walde, redeten mancherlei kindlich Ding; unter andevn wünschten wir, daß wir fliegen könnten, dann wollten wir über den Berg aus dem Land nach Deutschland fliegen (so nennt man in Wallis die Eidgenossenschaft), da kam ein grausam großer Vogel auf uns ge¬ schossen, daß wir meinten, er wollte einen oder beide hinwegtragen; da singen wir beide an zu schreien, mit dem Hirtenstäblein zu wehren und uns zu ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/430
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/430>, abgerufen am 01.10.2024.