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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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die hieß die Weißecke, da gingen meine Geislein zur rechten Hand auf einem
Felsen, der war einen guten Schritt breit und darunter war es grausam tief,
nichts als Felsen. Von diesem Felsen ging eine Geis der andern nach, eine
steile Bergwand hinauf, so daß sie blos die Fußklauen auf die Krautbüschel
stellen konnten, die auf dem Felsen gewachsen waren. Wie sie nun hinauf
waren, wollte ich auch nach; als ich aber nicht mehr als ein Schrittlein
mich am Grase hinaufgezogen hatte, konnte ich nicht weiter kommen, ver¬
mochte auch nicht wieder aus den Felsrand hinabzutreten, durste noch viel
weniger hinter mich springen, denn ich fürchtete, wenn ich hinter mich
spränge, ich würde überschlagen und über den grausamen Felsen hinabfallen.
Ich blieb also ,eine gute Weile stehen, wartete auf die Hilfe Gottes, vermochte
nicht mehr mir selber zu helfen, außer daß ich mich mit beiden Händen an
einen Grasbusch hielt und stand mit der großen Zehe auf einem Büschel und
stemmte die andre Zehe an. In dieser Noth war mir sehr Angst, denn ich
fürchtete die großen Geier, die unter mir in den Lüften flogen, ich fürchtete,
sie würden mich hinwegtragen, wie denn zuweilen in den Alpen geschieht, daß
die Geier Kinder und junge Schafe hinwegtragen. Dieweil ich nun dastand
und mir der Wind mein Hemdlein hinten auswebt, (ich hatte auch keine Hosen
an) so ersieht mich mein Gesell Thomas von weitem, und wußte doch nicht,
was das war; wie er mein Röcklein flattern sah, meinte er, es wäre ein Vogel,
wie er mich aber recht ansieht, erschrak er, daß er.ganz bleich ward, rief mir
zu: "Thömi, nun stand still!" geht herzu ans den Felsen, nimmt mich auf
den Arm und trägt mich wieder herunter zu einem Ort, wo wir hinaufkommen
konnten zu den Geisen. Etliche Jahre später, als ich einmal aus der Schule
von weiten Landen heimkam, ward mein Gesell meiner inne, kam zu mir und
mahnte mich, daß er mich damals vom Tode erlöst hätte (wie auch wahr war,
doch gebe ich Gott die Ehre). "Wenn ich Priester würde, sollte ich seiner ein¬
gedenk sein, ihn wieder unter den Kelch in Sicherheit bringen und Gott für
ihn bitten."

Einst hat sich zugetragen, daß ich und eine junge Tochter, die auch ihrem
Vater die Geisen hütete, daß wir uns im Spiel aufhielten bei einer Wasser¬
leite, wo man das Wasser den Bergen nach zu den Gütern führt; da hatten
wir kleine Matten gemacht und die bewässert, wie Kinder thun. Unterdessen
waren die Geisen den Berg hinaufgegangen, wir wußten nicht wohin; da ließ
ich mein Röcklein liegen, stieg den Berg hinauf, die ganze Höhe, daS Mägd¬
lein aber ging ohne die Geisen heim; ich aber, der ich ein armes Dicnstkind
war, durfte nicht heimkommen, ich hätte denn die Geisen. Oben auf der
Höhe fand ich ein jung Gemslein, das glich einem meiner jungen Zickeln,
dem ging ich von weitem nach, bis die Sonne herunterging; da sah ich zum
Dorf hinab und eS war fast Nacht bei den Häusern; ich fing an, hinabzu-


die hieß die Weißecke, da gingen meine Geislein zur rechten Hand auf einem
Felsen, der war einen guten Schritt breit und darunter war es grausam tief,
nichts als Felsen. Von diesem Felsen ging eine Geis der andern nach, eine
steile Bergwand hinauf, so daß sie blos die Fußklauen auf die Krautbüschel
stellen konnten, die auf dem Felsen gewachsen waren. Wie sie nun hinauf
waren, wollte ich auch nach; als ich aber nicht mehr als ein Schrittlein
mich am Grase hinaufgezogen hatte, konnte ich nicht weiter kommen, ver¬
mochte auch nicht wieder aus den Felsrand hinabzutreten, durste noch viel
weniger hinter mich springen, denn ich fürchtete, wenn ich hinter mich
spränge, ich würde überschlagen und über den grausamen Felsen hinabfallen.
Ich blieb also ,eine gute Weile stehen, wartete auf die Hilfe Gottes, vermochte
nicht mehr mir selber zu helfen, außer daß ich mich mit beiden Händen an
einen Grasbusch hielt und stand mit der großen Zehe auf einem Büschel und
stemmte die andre Zehe an. In dieser Noth war mir sehr Angst, denn ich
fürchtete die großen Geier, die unter mir in den Lüften flogen, ich fürchtete,
sie würden mich hinwegtragen, wie denn zuweilen in den Alpen geschieht, daß
die Geier Kinder und junge Schafe hinwegtragen. Dieweil ich nun dastand
und mir der Wind mein Hemdlein hinten auswebt, (ich hatte auch keine Hosen
an) so ersieht mich mein Gesell Thomas von weitem, und wußte doch nicht,
was das war; wie er mein Röcklein flattern sah, meinte er, es wäre ein Vogel,
wie er mich aber recht ansieht, erschrak er, daß er.ganz bleich ward, rief mir
zu: „Thömi, nun stand still!" geht herzu ans den Felsen, nimmt mich auf
den Arm und trägt mich wieder herunter zu einem Ort, wo wir hinaufkommen
konnten zu den Geisen. Etliche Jahre später, als ich einmal aus der Schule
von weiten Landen heimkam, ward mein Gesell meiner inne, kam zu mir und
mahnte mich, daß er mich damals vom Tode erlöst hätte (wie auch wahr war,
doch gebe ich Gott die Ehre). „Wenn ich Priester würde, sollte ich seiner ein¬
gedenk sein, ihn wieder unter den Kelch in Sicherheit bringen und Gott für
ihn bitten."

Einst hat sich zugetragen, daß ich und eine junge Tochter, die auch ihrem
Vater die Geisen hütete, daß wir uns im Spiel aufhielten bei einer Wasser¬
leite, wo man das Wasser den Bergen nach zu den Gütern führt; da hatten
wir kleine Matten gemacht und die bewässert, wie Kinder thun. Unterdessen
waren die Geisen den Berg hinaufgegangen, wir wußten nicht wohin; da ließ
ich mein Röcklein liegen, stieg den Berg hinauf, die ganze Höhe, daS Mägd¬
lein aber ging ohne die Geisen heim; ich aber, der ich ein armes Dicnstkind
war, durfte nicht heimkommen, ich hätte denn die Geisen. Oben auf der
Höhe fand ich ein jung Gemslein, das glich einem meiner jungen Zickeln,
dem ging ich von weitem nach, bis die Sonne herunterging; da sah ich zum
Dorf hinab und eS war fast Nacht bei den Häusern; ich fing an, hinabzu-


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[0429] die hieß die Weißecke, da gingen meine Geislein zur rechten Hand auf einem Felsen, der war einen guten Schritt breit und darunter war es grausam tief, nichts als Felsen. Von diesem Felsen ging eine Geis der andern nach, eine steile Bergwand hinauf, so daß sie blos die Fußklauen auf die Krautbüschel stellen konnten, die auf dem Felsen gewachsen waren. Wie sie nun hinauf waren, wollte ich auch nach; als ich aber nicht mehr als ein Schrittlein mich am Grase hinaufgezogen hatte, konnte ich nicht weiter kommen, ver¬ mochte auch nicht wieder aus den Felsrand hinabzutreten, durste noch viel weniger hinter mich springen, denn ich fürchtete, wenn ich hinter mich spränge, ich würde überschlagen und über den grausamen Felsen hinabfallen. Ich blieb also ,eine gute Weile stehen, wartete auf die Hilfe Gottes, vermochte nicht mehr mir selber zu helfen, außer daß ich mich mit beiden Händen an einen Grasbusch hielt und stand mit der großen Zehe auf einem Büschel und stemmte die andre Zehe an. In dieser Noth war mir sehr Angst, denn ich fürchtete die großen Geier, die unter mir in den Lüften flogen, ich fürchtete, sie würden mich hinwegtragen, wie denn zuweilen in den Alpen geschieht, daß die Geier Kinder und junge Schafe hinwegtragen. Dieweil ich nun dastand und mir der Wind mein Hemdlein hinten auswebt, (ich hatte auch keine Hosen an) so ersieht mich mein Gesell Thomas von weitem, und wußte doch nicht, was das war; wie er mein Röcklein flattern sah, meinte er, es wäre ein Vogel, wie er mich aber recht ansieht, erschrak er, daß er.ganz bleich ward, rief mir zu: „Thömi, nun stand still!" geht herzu ans den Felsen, nimmt mich auf den Arm und trägt mich wieder herunter zu einem Ort, wo wir hinaufkommen konnten zu den Geisen. Etliche Jahre später, als ich einmal aus der Schule von weiten Landen heimkam, ward mein Gesell meiner inne, kam zu mir und mahnte mich, daß er mich damals vom Tode erlöst hätte (wie auch wahr war, doch gebe ich Gott die Ehre). „Wenn ich Priester würde, sollte ich seiner ein¬ gedenk sein, ihn wieder unter den Kelch in Sicherheit bringen und Gott für ihn bitten." Einst hat sich zugetragen, daß ich und eine junge Tochter, die auch ihrem Vater die Geisen hütete, daß wir uns im Spiel aufhielten bei einer Wasser¬ leite, wo man das Wasser den Bergen nach zu den Gütern führt; da hatten wir kleine Matten gemacht und die bewässert, wie Kinder thun. Unterdessen waren die Geisen den Berg hinaufgegangen, wir wußten nicht wohin; da ließ ich mein Röcklein liegen, stieg den Berg hinauf, die ganze Höhe, daS Mägd¬ lein aber ging ohne die Geisen heim; ich aber, der ich ein armes Dicnstkind war, durfte nicht heimkommen, ich hätte denn die Geisen. Oben auf der Höhe fand ich ein jung Gemslein, das glich einem meiner jungen Zickeln, dem ging ich von weitem nach, bis die Sonne herunterging; da sah ich zum Dorf hinab und eS war fast Nacht bei den Häusern; ich fing an, hinabzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/429>, abgerufen am 01.07.2024.